Sonntag, 1. Mai 2016

Zwischenspiel


Mein eigener Schatten ist auf dem Pilgerweg ein verlässlicher Begleiter geworden. Selbst wenn die Sonne nicht scheint, ist er anwesend, obwohl ich ihn dann nur ahne. Doch bereits der nächste Sonnenstrahl bezeugt seine Anwesenheit. Der Schatten ist das wahre Selbstportrait des Pilgers, den ich nicht aufrollen will wie Peter Schlemihl es tat, der damit seine Seele weggab. War es sein Schatten, der Philip Pullman inspirierte, seinen Figuren einen Dæmon mitzugeben, von dem sie sich nur unter Schmerzen trennen konnten? Ich schaue zu, wie mein Schatten vor mir über den Boden schwebt. Ein anderes Mal ziehe ich ihn wie einen Sack hinter mir her, mit allem, was ich im Lauf meines Lebens hineingepackt habe, um es hinter mir zu lassen.

Endlich ist es wieder Mai! In meinem Monat erreicht der Frühling jedes Jahr seinen Höhepunkt. Und der Kuckuck kommt zurück. Ich werde gehen und sehen, ob ich ihn hören kann. Ende des Monats werde ich 65 Jahre alt. Mein Leben verlief bisher in zwei Phasen, jede in zwei Abschnitten: Frühling-Sommer sowie Herbst-Winter. Inzwischen hat die dritte Phase mit dem Abschnitt Frühling-Sommer erneut begonnen. Mein Drittes Alter ist angebrochen. Ich will das kommende, lange Wochenende an Himmelsfahrt nutzen, um an meine Wilsnack-Pilgerfahrt anzuschließen, um aus der Prignitz heraus in die Altmark zu wandern, kulturgeographisch ein wichtiger Teil der Mark Brandenburg, politisch aber Sachsen-Anhalt. Der Weg von Wilsnack nach Tangermünde führt durch weitere, einst bedeutende Hansestädte: Havelberg und Werben. Als Leitmotiv für meine zweite Fußreise wähle ich Verse von Steve Marriott:

Over Bridge of Sighs
To rest my eyes in shades of green
Under dreaming spires
To Itchycoo Park, that's where I've been

What did you do there? I got high
What did you feel there? Well, I cried
But why the tears there? Tell you why
It's all too beautiful

In den kommenden vier Tagen werde ich nach Tangermünde gehen, auf dem Weg, den wahrscheinlich auch die mittelalterlichen Pilger genommen haben, um den Jakobsweg zu erreichen, der sie über Magdeburg weiter nach Santiago de Compostela brachte. So weit werde ich in diesem Jahr nicht mehr gehen. Die Jakobusstadt in Galizien hebe ich mir noch auf. Noch bin ich nicht pensioniert. Zuvor will ich noch auf der Via Regia von Görlitz bis in die Rhön nach Vacha wandern, den Weg, den Pilger einst aus Skandinavien, Polen und Russland nach Santiago gegangen sind.
Warum eine Fußreise? Ich finde, Itchycoo Park von den Small Faces gibt eine gute Antwort: over bridge of sighs [Stadt] / to rest my eyes in shades of green [Natur]. Für mich stellt sich die Frage heute anders, doch die Antwort, die Steve Marriott gibt, ist unübertroffen: It´s all too beautiful! Inzwischen ist die Situation viel komplexer geworden. Viele von uns haben in den späten 1960er Jahren daran geglaubt, die Schönheit der Welt und das Geschenk des Lebens zu verbessern und zu bewahren. Nach dem vermeintlichen Sturz unmittelbarer Autoritäten und der nicht wirklich geglückten Befreiung der Sexualität von Schuld und Zwang fanden wir zu einem etwas verbesserten ökologischen Bewusstsein. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sind für die meisten Menschen nach wie vor katastrophal. Der gleichberechtigte und respektvolle Umgang zwischen den Geschlechtern ist die einzige Voraussetzung für Frieden und Glück auf diesem Planeten.
Die Mikrobiologin Lynn Margulis und der Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock formulierten die geniale Hypothese von Gaia, der Erde, als einem lebendigen Organismus, die wir besser nicht vergessen. Ich entdeckte die außereuropäischen Kulturen, die alles andere als primitiv sind, und Lösungen zu ihrer Existenz auf dem Planeten Erde gefunden haben, die erstaunlich modern und lehrreich sind. Ihre kulturellen Überzeugungen sind von der Einbindung des Menschen in sein Ökosystem geprägt. Voller Enthusiasmus wandte ich mich der Ethnologie zu, nur um zu erkennen, dass meine Wissenschaft mit dem Tempo der alles nivellierenden, materialistisch orientierten Globalisierung nicht mithalten kann. Weltanschauungen, die auf die Bewahrung der Schöpfung ausgerichtet sind, brachen in meiner Lebenszeit unter dem unersättlichen Hunger und der Habgier eines imperialistischen Kapitalismus zusammen. Wie andere Geisteswissenschaften auch, humpelt die Ethnologie dieser globalisierten, technischen und wirtschaftlichen Entwicklung am Stock hinterher.
Die Gaia-Hypothese basiert auf einem systemtheoretischen Verständnis. Sie ist benannt nach der weiblichen Erde, der ersten Gottheit, nicht nur in der griechischen Mythologie. Sie betrachtet die Erde und ihre Biosphäre als ein Lebewesen. Die Gesamtheit aller Organismen mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation schafft und erhält die Bedingungen und ermöglicht die Evolution komplexerer Organismen. Die Erdoberfläche als ein dynamisches System stabilisiert die gesamte Biosphäre durch auf menschliche Einflüsse reagierende Mechanismen. Die Organismen der Biosphäre bilden ein offenes und entropie-produzierendes System, das sich selbstorganisierend an seine Umgebung anpasst. Obwohl er es gerne leugnet oder vergisst, ist der Mensch auch nur ein Element dieser Biosphäre auf der Oberfläche des Planeten und der Evolution unterworfen. Inzwischen hat er es in der Hand, die Biosphäre der Erde so tiefgreifend zu verändern, dass er womöglich seine eigene Existenz bedroht. Eine nie zuvor dagewesene Situation.
Durch die Ökologiebewegung und das philosophisch-spirituelle Konzept des New Age fand die Gaia-Hypothese viele Anhänger. In diesem Kontext wird die Erde gelegentlich als ein beseelter Organismus aufgefasst, personifiziert wie einst die Erdgöttin der Griechen, die auf ihre Beeinflussung durch menschliche Aktivitäten empfindlich, positiv oder negativ reagiert. Wenn diese Überzeugung auch einem magischen Denken und einer animistischen Vorstellung entspringt, besitzt sie doch einen großen pädagogischen und ethischen Wert, solange nicht vergessen wird, dass es sich um eine Metapher handelt. Die Vorstellung, die Erde, ähnlich wie in der griechischen Antike, als eine Persönlichkeit mit psychischen Fähigkeiten aufzufassen, könnte zu einem anderen Verständnis und zu einem anderen Umgang mit unserer natürlichen Umwelt führen. Wie auch immer wir die gegenwärtig vor allem negativen Veränderungen unserer Umwelt verstehen wollen, dass die Erde auf die menschlichen Umgang mir ihr reagiert, ist inzwischen unzweifelhaft, denkt man dabei an den schnell eskalierende Klimakrise. Letztlich bieten die Begründer der Gaia-Hypothese eine optimistische Ökologie, wenn James Lovelock dies auch unglücklich formuliert:

Wenn ich von einem lebendigen Planeten spreche, soll das keinen animistischen Beiklang haben; ich denke nicht an eine empfindungsfähige Erde oder an Steine, die sich nach eigenem Willen und eigener Zielsetzung bewegen. Ich denke mir alles, was die Erde tun mag, etwa die Klimasteuerung, als automatisch, nicht als Willensakt; vor allem denke ich mir nichts davon als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend. Ich achte die Haltung derer, die Trost in der Kirche finden und ihre Gebete sprechen, zugleich aber einräumen, dass die Logik allein keine überzeugenden Gründe für den Glauben an Gott liefert. In gleicher Weise achte ich die Haltung jener, die Trost in der Natur finden und ihre Gebete vielleicht zu Gaia sprechen möchten.

Diese Argumentation grenzt an die entzauberte Auffassung der Natur durch die Aufkärung, wie sie im Westen seit der Renaissance üblich wurde. Obwohl Lovelock naturwissenschaftlich, physikalisch, argumentiert, hält er eine metaphysische Perspektive offen. Anstatt sie dogmatisch in sein Modell einzubauen, überlässt er es jedem Einzelnen sein Modell mit Leben und Beziehung zu füllen. Welchen Unterschied macht es, ob das Ökosystem Erde automatisch oder intentional reagiert? Diese Differenz führt eine Bewertung ein, während das Resultat identisch ist. Ich frage mich auch, welchen Unterschied macht es für mein Leben, an wen ich glaube oder zu wem ich bete. Entscheidend ist die Haltung zu meiner Umgebung, materiell und personell, in der ich glaube und bete.
Seit Gaia in den 1970er Jahren das Licht der Welt neu erblickte, sind weitere vierzig Jahre vergangen, in denen Überbevölkerung, Klimakrise und exzessiver Ressourcenverbrauch in damals nicht vorstellbarer Weise vorangeschritten sind. Steve Marriots it´s all too beautiful, das jenseits der eigenen Seufzerbrücke liegt, ist inzwischen gefährdeter denn je.

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