Samstag, 7. Mai 2016

Am falschen Grab


Ich will mich nicht daran beteiligen, das Angemessene aus den Augen zu verlieren und verlasse das Haus der Regeln gegen neun Uhr. Ich habe es nicht geschafft, alle Anweisungen der strengen Frau zu befolgen. Aber da meine Gastgeber noch nicht aufgestanden sind, muss ich mich nicht rechtfertigen. Ich habe mich bemüht, war aber letztlich überfordert. Als ich die Haustür hinter mir zuzog, hatte ich den Schlüssel in der Hand, den ich auf den Tisch in der Diele legen sollte. Also warf in ihn in den Briefkasten, in der Hoffnung, die strenge Frau kommt darauf, dort nachzusehen. Ich hoffe auch, nicht mehr wiederkommen zu müssen. Zwanghaft sein ist die Übertreibung von Zuverlässigkeit und Ordnung.
Zurück im Ort kaufe ich Proviant beim Discounter ein: Brot, Käse, Schokolade, für die beiden kommenden Tage. Einen isotonischen Drink auf die Schnelle. Mein Bananenvorrat reicht noch für den Tag. Ich gehe den gleichen Weg aus Werben hinaus, den ich in den Ort gekommen bin. Die kurze Rast auf der Bank am Kriegerdenkmal vor dem Portal der Kirche genieße ich in der warmen Morgensonne, die noch nichts von der gestrigen Hitze spüren lässt. Mit Espresso gefüllte Schokolade ersetzt mir den Cappuccino. Hoch über mir fliegen junge Rotmilane um den Kirchturm, wo sie ihren Horst haben. Mit schrillen Freudenrufen erheben sie sich in die Lüfte. Von der Schwere der Erde gelöst, gleiten sie mit ausgebreiteten Schwingen befreit am wolkenlosen Himmel dahin. Während ich ihrem schwerelosen Flug zuschaue, denke ich an mein Gepäck, und bin ich mir sicher, dass ich sie beneide.

Der Weg nach Berge führt über den Elberadweg. Eine schmale, asphaltierte Straße, auf der kaum Verkehr herrscht. Felder dehnen sich rechts und links von mir aus, einmal Weizen, dann wieder der gelbe Raps, dessen Duft die warme Luft schwängert. Am Straßenrand wetteifern blühende Bäume und Sträucher, zu willkürlich verteilt, um eine Allee zu sein. Schatten gibt es kaum. Ich fühle mich frisch und ausgeruht und bin schneller in Berge, als ich erwartet habe.
Am Ortseingang lockt mich die Kult-Bäckerei Obara mit Tischen und Bänken unter einem großen, schattenspendenden Baum. Vier Radwanderer sitzen schon bei Kaffee und Kuchen. Ein Blonder mit Muskelshirt und weit über seine Schultern fallendes Haar schwingt große Reden. Ehrfürchtig lauschen die anderen seinem Problem mit einem überteuerten Kühlschrank. Ein spannendes Thema früh am Morgen.
Dem Kaffee aus der Maschine traue ich nicht. Ich entscheide mich stattdessen für einen Windbeutel und einen kalten Orangensaft. Über die Felder weht ein frischer Wind herüber, der mich im durchgeschwitzten Hemd mehr erfrischt als ich mir wünsche. Ich beginne zu frieren, spüle den letzten Bissen mit einem kalten Schluck hinunter. Schnell bin ich wieder auf den Weg, gehe die lange Straße hinunter, vorbei an Eigenheimen, ans andere Ende von Berge. Der Weg zieht sich in die Länge, und ich frage mich unvermittelt, ob die vielen Schritte in den Ortschaften bei den Entfernungsangaben in meinem Wanderführer mitgezählt sind.
Die Kirche am Ortsende, nur noch begrenzt von einem Deich, hinter dem sich die Elbaue ausdehnt, umgibt ein verwilderter Friedhof. Das Terrain ist von einem hüfthohen, eisernen Zaun, wie inzwischen vertraut, versperrt. Die Kirche ist romanisch, 1151 erstmals urkundlich erwähnt, In ihrer Wuchtigkeit erinnert mich ihr Stil an die Basilika in Wusterhausen, die ihren architektonischen Ursprung auch nicht verleugnen kann. Mit eingezogenem Chor, runder Apsis und quadratischem Turm fällt sie ebenfalls etwas aus dem Rahmen. An einer Besichtigung bin ich nicht interessiert, wohl aber neugierig auf die beiden mittelalterlichen Sühnekreuze, um die sich weiteres Tatortskript rankt, eine Tragödie aus Intrige und Habgier.
Über die Sühnekreuzlegende von Berge berichtet der Pilgerführer der Oefeleins. Der Adelige, zu dessen Territorium Berge gehörte, neidete dem Bürgermeister des Orts seinen Wohlstand. Den Besitz der beiden Männer trennte lediglich der heutige Friedhof. Der arglistige Adelige beeinflusste die Söhne des Dorfschulzen, und brachte sie durch eine betrügerische Rede über ihr Erbe gegeneinander auf. In dem Duell, das auf Betreiben des Adeligen erfolgte, der auch die Duellpistolen manipulierte, starben beide Söhne und der Schulze hatte keine Erben mehr. Aber auch der Schulze lebte nicht mehr lange, da ihn der Adelige vermutlich erschoss, was ihm aber nicht nachgewiesen werden konnte. Die beiden Sühnekreuze an diesem Unglücksort erinnern bis heute an die beiden Söhne des Dorfschulzen. Sie geben der Familie des Dorfschulzen einen Platz in der Geschichte Berges. Ob sie dem adeligen Mörder den himmlischen Frieden sichern, sei dahin gestellt.
Nur ein paar Schritte jenseits des Zauns, der den Kirchplatz als sakralen Ort aus der Alltäglichkeit hebt, geht es hinauf auf die Deichkrone nach Büttnershof. Der Elberadweg verläuft zwischen hohen Hecken, die zwar meinen Blick auf einen Altarm der Elbe behindern, dafür aber den immer noch kalten Wind mildern. Ohne wenigstens einige der zahlreichen Wasservögeln zu sehen, zu dicht ist der Bewuchs, begleitet mich ihr Geschnatter und Gezeter wie ein auf- und abschwellendes Crescendo die nächsten Kilometer. Radwanderer, die von vorne und hinten an mir vorbeifahren, reißen mich immer wieder in die Wirklichkeit zurück, wenn ich gerade in die Natur eintauche. Auch der Kuckuck ist wieder mit dabei, und sein Ruf lockt mich in die Ferne.

Pilger, Wanderer und Touristen

Traditionell ist das Ziel einer Pilgerfahrt die Verehrung eines Heiligen, wundertätige Reliquien oder der Besuch eines Grabes; in einer Atmosphäre, umrankt von zumeist mittelalterlichen Legenden. Vordergründig, und moderner, geht es um die nicht teilbare subjektive, spirituelle Erfahrung auf dem Weg dorthin. Die abgegriffene Metapher von Weg, der das Ziel ist, gewinnt in diesem Kontext ein frisches Gewand.
Für viele deutsche Pilger war der Kerkeling-Effekt der Aufbruch zu einer Spiritualität jenseits der katholischen Kirche. Dieser Boom griff so tief, dass deutsche Pilger von ihren internationalen Mitpilgern inzwischen wohlwollend als Kerkelings bezeichnet werden. Der Erfahrungsbericht des TV-Moderators und Comedian führte zu einem Anstieg der deutschen Pilger, die zu Fuß nach Santiago de Compostela gingen. Allein 2007 verzeichnete das Pilgerbüro in Santiago einen Zuwachs an deutschen Pilgern von 70 Prozent. Mit den steigenden Zahlen von Pilgern aus aller Welt hat sich das Pilgern zu einem sozialen Event, der Jakobsweg zunehmend zu einem touristischen Ereignis gewandelt. Pilgern ist wegorientiert, weniger auf ein einziges Ziel ausgerichtet. Unterwegs sein auf diesem Weg erfüllt inzwischen die Merkmale von zwei Aspekten, ist spirituell-religiös sowie touristisch geworden, ohne das sich mittlerweile das eine deutlich vom anderen unterscheiden lässt. Pilgern bietet heute die Freiheit beides zu sein oder bedarfsweise die Rollen zu tauschen. So ist der moderne Pilger beides, Sinnsucher und Tourist, anders als sein mittelalterlicher Vorgänger, für den die Pilgerfahrt eine Angelegenheit des katholischen Glaubens und der Buße war. Der kollektiven Verbundenheit mit einer Religion steht eine subjektive Weltanschauung gegenüber, die nur noch schwierig religiös zu verorten ist. Zu vielfältig sind mittlerweile die Motive. Pilgern ist eine Form des Massentourismus geworden: bunt, individuell, international. Kirche sowie Medien- und Touristikunternehmen wetteifern nicht nur um die finanziellen Ressourcen der Pilger, sondern bieten ihnen auch unterschiedliche Leitbilder, Sinnkonstrukte, Accessoires und Programme an.
Berechtigt stellen Julia Reuter und Veronika Graf fest, dass sich unabhängig davon, ob man die entsprechenden Reiseangebote als Pilgerreise verstehen will oder nicht, [sich] ein riesiges Portal an Reiseanbietern ausgebildet [hat], die unter Schlagworten wie spiritueller Tourismus, Wellness- oder Besinnungstourismus die Pilgerfahrt unter das Diktat einer kapitalistischen Marktwirtschaft gestellt haben.
Aber das ist alles nicht neu! Pilgern war schon immer ein Massenphänomen, hat sich auch nie allein auf den so populär gewordenen Jakobsweg beschränkt, wie beispielsweise die Wilsnack-Pilgerfahrt belegt. Neu sind auch nicht die am Wegesrand angebotenen Devotionalien oder die zahlreich in speziellen Shops angebotenen Souvenirs an den sakralen Orten einer Pilgerfahrt, die das trotz Vermarktung immer noch sind. Ob es sich früher um Pilgerzeichen gehandelt hat oder heute um den begehrten Stempel im Pilgerpass, der das Dortgewesensein bestätigt, ist lediglich einer sich ändernden Lebenswelt und Sinnpflege geschuldet, ohne die keine kulturelle Institution lange überleben kann. Die Vermarktung der Pilgerfahrt hat lange vor der Wiederkehr der Popularität des Jakobswegs eingesetzt.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem modernen Pilger besteht darin, dass sich magisches und mystisches Wahrnehmen für den letzteren nicht allein an vordefinierten Orten und Gebäuden ereignet. Der Fokus des modernen Pilgerns liegt mehr auf dem affektivem Betroffensein des Pilgers von den Atmosphären, die ihm auf dem Weg begegnen und zu denen er eine individuelle Beziehung eingeht, weniger im Besuch von mit erwartbarer Bedeutung aufgeladenen Orten und Gebäuden. Die Diversität moderner Pilger, deren Herkunft und Motivation, löst sich vielfältig in der Einheit der Pilgergemeinschaft auf, in dem, was Victor Turner als Communitas bezeichnet hat. Der aktuelle Pilgerhype ist in Bewegung geratene Sehnsucht nach Religiosität, die sich von den Dogmen der katholischen Kirche losgesagt hat. Die zentrale Motivation modernen Pilgerns scheint in der Suche nach Sinn in einer globalisierten Welt zu kulminieren. Dieses Bedürfnis nach Sinn erwächst aus der Entfremdung des einzelnen Menschen in dieser Welt, die zu wachsender Unsicherheit über seine Identität, zu Zukunfts- und sozialen Ängste führt. Rituale der Selbstvergewisserung sind mehr denn je erforderlich geworden, sodass Pilgern neben der rituellen auch eine therapeutische Dimension gewinnt, wenn beides überhaupt zu trennen ist. Pilgern bietet die rituelle Struktur in einem ahierarchischen und unstrukturierten, freiheitlichen Raum für diesen psychischen Entwicklungsschritt. Dass das Institut Pilgern, wie von Julia Reuter und Veronika Graf erhofft, die etablierte Kirche nicht nur physisch, sondern auch institutionell und weltanschaulich in Bewegung setzt, ist nicht mehr als der Nebeneffekt einer Bewegung, die längst über Kirche und Dogma hinausdenkt. Dass sich dieser Prozess mit den Mitteln der eigenen lebensweltlichen Erfahrungen der Pilger inszeniert, ist nicht weiter erstaunlich. Wie sollte dies auch anders sein! Hat die Kirche in der Vergangenheit kulturelle Institutionen usurpiert, um ihre eigenen Inhalte fremden Kulturen besser nahe zu bringen, bedient sich der moderne Pilger der Vorstellung seines Lebens als einer Reise, die er seinen eigenen Erfahrungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten anpasst. Das eigentliche Ziel dieser Reise ist nicht länger ein geographischer, mit jenseitiger Symbolik aufgeladener Ort, der auf einer Landkarte verzeichnet und auf einem Straßenatlas kartografiert ist. Das Ziel, zu dem sich der moderne Pilger auf den Weg macht, ist vielmehr ortlos, allenfalls in seiner Innenwelt auf einer psychischen Landkarte symbolisch vorhanden. Das Ziel des modernen Pilgers liegt in ihm selbst. Unterwegs auf dem Weg zu sich selbst, entwirft oder verändert er seine eigene Geschichtenkarte, die gleichzeitig die äußere Landschaft beschreibt und seine psychische Befindlichkeit sowie seine Erlebnisse während seiner Pilgerfahrt in diese Karte einträgt. Robert Mcfarlane erläutert ausführlich, was eine Geschichtenkarte von einer auf Daten reduzierten Landkarte unterscheidet, die den Raum unabhängig vom Sein erfasst: Geschichtenkarten stellen Orte so dar, wie Individuen oder Kulturen sie wahrnehmen, die sich in ihnen bewegen. Anstatt einen Ort zu beschreiben, der unendlich oft bereist werden könnte, zeichnen sie einzelne Reisen nach. Eine Geschichtenkarte rankt sich um das Erleben des Reisenden, und die ihn ihr gesetzten Grenzen ergeben sich aus dem Gesichtskreis und Erfahrungshorizont des Reisenden. Ereignis und Ort sind nicht klar voneinander trennbar, da sie in Wechselwirkung zueinander stehen. Die wochenlange Bewegung zu Fuß durch die Natur wirkt magisch und mystisch zugleich, ist selbst Religion. Eine Konfession braucht es dazu nicht. Seine Umgebung öffnet ihm naturräumliche Dimensionen voller göttlicher Atmosphären, die ihn in psychisch zutiefst betreffen - physisch, mental und emotional.
Wer sich diese Auffassung zu eigen macht, der geht auf seinem eigenen Pilgerweg, den nur er gehen kann, unabhängig davon, wer vor ihm geht oder gegangen ist. Die Pilgerfahrt entfaltet sich zu einer Meditation, zu einer Initiation, zu einem einzigartigen, nicht wiederholbaren Ereignis, dass sich im Gehen seine eigene Struktur schafft. Die Gefühle und Gedanken des Pilgers auf dem Weg sind einzigartig, aber nicht unteilbar. Diese Einzigartigkeit und Mitteilbarkeit in der Gemeinschaft der Pilger, so meine ich, verbindet den mittelalterlichen mit dem modernen Pilger jenseits von Konsum und Instrumentalisierung. Es ist auch nicht neu, dass der Weg des Pilgers mitten durch Babylon führt, wie es die Rastafari ausdrücken würden, oder, wie es Rudolf Steiner sieht, er nur auf dem Weg durch den Materialismus zu einem neuen Bewusstsein seiner selbst finden kann: Es ist jedoch, wie schon gesagt, ein Axiom des Buddhismus, dass Nirwana Samsara ist, und die Erlösung von der neurotischen Verformung der Persönlichkeit, die alles Leid verursacht, nicht in irgendeinem Himmel, sondern immer nur Hier und Jetzt stattfinden kann.

Die idyllische Stimmung, die mich auf dem Weg entlang der Elbe einhüllt, endet abrupt. Unwillig stehe ich zwischen ausgedehnten, intensiv landwirtschaftlich genutzten Flächen. Dazwischen ein aufgegebener Bauernhof, der an einen kleinen Friedhof mit nur wenigen Gräbern grenzt. Die Verlassenheit der Grabsteine und die Melancholie des alten Gemäuers bilden einen fast poetischen Kontrast zu dem geometrischen Schachbrett der Felder. Wieder mündet der Weg in eine Landstraße ohne Verkehr. Nicht das erste Mal schaue ich mich irritiert um, finde meinen Weg nicht. An einer Kreuzung kommen mir zwei Radwanderer entgegen, die wissen, wie ich nach Büttnershof komme. Sie schauen mich genervt an, scheinen nicht erfreut zu sein, dass ich sie anhalte. Während mich die Frau bemüht anlächelt, blickt der Mann unter seinem tief in die Stirn gezogenen Helm mürrisch. Bis Büttnershof ist es nicht mehr weit, verraten sie mir, und ich freue mich auf ein kühles Radler, das auch dem durstigen Pilger schmeckt.

Büttnershof ist ausgebucht. Der Parkplatz vor dem Restaurant ist mit Autos gefüllt, Motorräder knattern, die Bänke unter den ausladenden Sonnenschirmen belagern die Biker und lassen es sich gut gehen. Fußmüde und ein wenig enttäuscht gehe ich um das mondäne Hotel herum und suche mir einen Schattenplatz unter einer großen Eiche, mit Blick auf einen kleinen Weiher und Froschkonzert. Wie gut, dass auf der Terrasse kein Platz mehr für mich frei war. Nun trinke ich von meinen knappen Wasservorrat, der noch den ganzen Nachmittag reichen muss. Ich erwarte nicht, dass ich meine Flasche noch irgendwo auffüllen kann. Ein schönes Telefonat mit meiner Frau, die mit ihrer Tochter unterwegs zur Ostsee ist, rundet den Moment ab. Ausnahmsweise gibt es ein Mobilfunknetz. Ich lehne mich dem Rücken an die Eiche, fühle mich gestützt und grün eingetaucht, verwöhnt vom Blütenduft. Ich döse in den warmen Tag hinein, verschwitzt, die Füße hoch auf den Rücksack gebettet. In dem Gehege nebenan kreischt ein unsichtbarer Pfau.
Büttnershof ist ein Besuchermagnet, ein Ausflugslokal für Familien, Radwanderer und Biker mit ihren schweren Maschinen. Überall im Park flanieren Paare und Familien mit kleinen Kindern, die im Vorübergehen neugierig zu mir herüber schauen. Als Fußgänger mit großem Rucksack, barfuß an den Baum gelehnt, fühle ich mich unter den elegant oder sportlich Spazierenden seltsam deplaziert. Ich schlendere durch das Gut, um das sich ein kleiner Weiler gebildet hat. Die Wohnhäuser liegen zwischen den Gärten, Höfe, in denen Kinder spielen. Ihre Väter polieren Autos für den kommenden Sonntag auf Hochglanz. Familien kehren vom Wochenendeinkauf zurück nach Hause. Der Elberadweg ist noch immer eine asphaltierte Straße auf der mich immer wieder Radwanderer überholen. Von Büttnershof nach Käcklitz ist es nur ein Katzensprung.
Schon von weitem sehe ich einen Kirchturm durch noch unbelaubte Bäume, in deren Ästen sich die Mistel breit gemacht hat. Die Kolonie der schmarotzenden Pflanzen wirkt aus der Ferne wie eine Sammlung riesiger Kugeln, die jemand in die Bäume gehängt hat, obwohl Weihnachten noch fern ist. Die Ruine teilt die wechselvolle Geschichte vieler anderer Kirchen in der bedeutungslos gewordenen Mark Brandenburg. Das Portal der verfallenen Ruine gähnt als schattiger Tunnel, durch den mein Blick in das Innere eines sonnendurchfluteten Kirchenschiffs fällt, dem das Dach fehlt. Der Kirchenbau gehört stilistisch zur frühen Backsteingotik, und Backsteinfragmente bilden den übriggebliebenen Rest der ehemaligen Dorfkirche von Käcklitz. Die gleichnamige Siedlung in der Altmark wurde schon vor Jahren aufgegebenen. Älteste Teile der Kirche sind die unteren beiden Turmgeschosse sowie der westliche Teil des Kirchenschiffs. Vermutlich Ende des 15. Jahrhunderts entstand der obere Teil des Turms. Viel später wurde der Chor umgebaut und weitere Gewölbe eingefügt. Vieles davon ist noch zu sehen, anderes nur zu erahnen. Schon 1581 lebten nur noch wenige Familie im Ort. Die Familie Pieverling aus Rosenholz hatte das Patronat über die Kirche inne, musste es sich aber seit 1713 mit der Familie Büttner vom Büttnershof teilen. Im Untergeschoss des Turms sollen sich ursprünglich zwei Figurengrabsteine befunden haben. Die im 17. Jahrhundert gefertigten Steine zeigen Georg und Gabriel von Pieverling als Ritter im Harnisch. Weitere Grabsteine der Familie befanden sich in der Kirche an der Nordwand des Chors; ein weiterer für den Deichhauptmann Abraham von Pieverling. Die beiden Kirchenglocken stifteten 1760 Christoph von Pieverling und Eleonora Henriette von Görne.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Innere der Kirche erneuert. In den 1950 Jahren hat man das Kircheninnere neu geweißt, das die Katechetin Zimmermann mit Bibelsprüchen versah. Trotzdem schaffte es die Kirche Käcklitz nur zu einer Polkritzer Filialkirche, deren Pfarrer die Amtsgeschäfte leitete. Die Umnutzung in eine LPG besiegelte das Schicksal von Dorf und Kirche. Wohngebäude und Ställe wurden aufgegeben, die letzte Konfirmation fand 1962, der letzte Gottesdienst 1968 statt. Ihr Dach verlor die Kirche dann in den 1970er Jahren. In den ungenutzten Gebäuden des Orts sowie in der Kirche biwakierten nun Soldaten der Sowjetischen Armee, die in der Region ihre Manöver durchführte, wobei die Gebäudesubstanz erheblich litt. Seit der Sanierung der Kirchenruine ist der gut erhaltene Kirchturm als Aussichtsturm zugänglich. Das Highlight des Nachmittags: der Blick vom Turm über die Ebenen der Mark. Doch ich zögere über die eiserne Treppe in das Obergeschoss des Turms zu steigen. Ich mag heute keine Stufen, und mache mir vor, dass die Aussicht auf die Flussaue nicht besonders interessant ist.
Im gleichen Augenblick kommt ein grauhaariger Radfahrer zu mir ins offene Kirchenschiff. Am Wegrand hat er Rad und Rucksack unbewacht zurückgelassen. Wir tauschen das übliche Woher und Wohin aus. Während er sich an den Aufstieg macht, mache ich mich wieder auf den Weg. Etwas später überholt er mich so zügig, dass ich erschrecke, grüßt noch einmal überschwänglich und ist schon wieder fort. Ich bin so in Gedanken versunken, dass er vorbei ist, bevor ich seinen Gruß erwidern kann. Uniforme und langweilige Häuserzeilen heißen Rosenhof, ohne die Schönheit, an die ein solcher Name denken lässt, eine stark befahrene Landstraße, hinter der sich, unerwünscht und hässlich, ein Industriegebiet ausbreitet, dass die Flussaue der Elbe zerstört hat. Die Landstraße steigt in Richtung Industriegebiet zu einer Brücke hin an. Am Elberadweg steht eine Bank neben einem Gedenkstein. Eine windschiefe Tafel berichtet von einem denkwürdigen Tag in der Geschichte der Altmark, von dem Gefecht von Altenzaun und der besonderen militärichen Strategie, mit der ein gewisser Ludwig Graf Yorck von Wartenburg als Kommandeur der 1. leichten Brigade den Abzug Blüchers nach Norden über die Elbe vor den nachrückenden napoleonischen Truppen sicherte. Der Oberst bewährte sich im Gefecht mit den Franzosen. Er synchronisierte seine gute Stellung zwischen Altenberg und Schwarzholt-Polkritz mit einer raffinierten Kombination aus Täuschungsmanöver und Hinterhalt. Für den Rest seines Lebens trug ihm dieser Schachzug den Ruf eines geschickten Taktikers ein.
Schwarzholz und Kirch-Polkritz wurden erstmals 1157 als swartenholte und pulcriz in einer für das Kloster Ilsenburg ausgestellten Urkunde des Markgrafen Albrecht von Brandenburg erwähnt. Stets auf Neue sind es die alten, übriggebliebenen Kirchen, die von einer historischen Bedeutung erzählen, die schwer nachvollziehbar ist. Die wenigen Häuser, die fast verlassen wirkenden Weiler, schwer vorstellbar, dass Polkritz schon so früh existiert haben soll. Nur der slawische Ursprung der Ortsnamen verrät das Alter solcher Orte. Auf die Kirche von Polkritz führt ein sandiger Feldweg zu. Seit Jahrhunderten weist sie dem Wanderer den Weg, ragt schon von weiten sichtbar über die Bäume. Nach vielen Kilometern ist der Elberadweg für ein kurzes Stück nicht asphaltiert oder gepflastert. Wohltuend für müde Füße wirkt sie auf mich wie ein Relikt aus alter Zeit. Die kleine Feldsteinkirche liegt inmitten eines Friedhofs, der weitgehend sich selbst überlassen wirkt. Er macht auf mich den gleichen verwunschen Eindruck wie der alte Friedhof hinter der Nikolaikirche in Görlitz, wo ich einst das Grab von Jakob Böhme suchte. Der Friedhof in Polkritz ist nur eine Miniatur der großen historischen Anlage an der Neiße.
Vor dem Tor lagert eine Gruppe Radwanderer, unschlüssig diskutierend, ob sie nun eintreten sollen oder nicht. Ich bin schon fast vorbei, als ich ein Holzschild mit einer verwitterten Aufschrift sehe, an dem ich nicht vorbeikomme: Chamisso-Grab. Und wieder suche ich nach einem Grab, dem von Adelbert von Chamisso, vergebens. Enttäuscht stehe ich vor einem Marmorgrabstein mit der Inschrift Ernst und Sophie von Chamisso, geb. Winterfeld, Verstorbenen, von denen ich nie gehört habe. Den beiden Toten hat man merkwürdige Leitmotive in den Marmor gemeißelt. Dem Mann: Selig sind die reinen Herzens sind; der Frau: Selig sind die, die da Leid tragen. Welches Geheimnis mag sich dahinter verbergen, dass das reine Herz des Mannes mit dem Leid der Frau gespiegelt wird? Menschen, die ihr genderspezifisches Verschiedensein bis ins Jenseits verfolgt. Bewertungen, die immer noch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern belasten. Doch der Tote, der unter dem kalten Marmor ruht, sagt mir nichts. Der Dichter Adelbert, den ich schon als Jugendlicher bewundert habe, ist er nicht, obwohl ein Text mit Fotografie des Naturforschers und Dichters neben dem Grab an ihn erinnert. Einem frühen Bürger Europas nennt ihn sein Biograph. Spricht der Text die Wahrheit, wenn er behauptet: Hier fand der Dichter und Botaniker, Adelbert von Chamisso, seine letzte Ruhestätte. Und ohne eine weitere Bemerkung darüber, wo der Dichter begraben liegt, geht der Text zu Albrecht dem Bären und der von ihm 1157 verfassten Urkunde über. Aber die Holztafel mit den beiden fotokopierten Blättern enthält nur eine von mehreren Merkwürdigkeiten neben dem Chamisso-Grab in Polkritz. Ein dreiseitiger Zeitungsbericht informiert ausführlich über Leben und Werk einer Spohie von Sichart von Sichartshoff, eine angeblich in Vergessenheit geratene altmärkische Dichterin. Während ich lese, frage ich mich zunehmend verwundert, was denn diese Sophie mit der Sophie im Grab zu tun hat, deren Geburtsname Winterfeld und deren Familienname zur Zeit ihres Todes Chamisso war. Doch über den Toten, scheint mir, schwebt wie ein undurchdringlicher Schatten die Geschichte anderer Berühmtheiten. Keine der Tafeln verrät etwas über die in den Gräbern Ruhenden. Am Kleinen Wannsee in Berlin stand ich erst vor ein paar Wochen am Grab von Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, und ich hätte gerne auch des Dichter Chamissos Grab gesehen, dem Autor der Erzählung Peter Schemihl.

Ein früher Europäer und wahrer Reisender

Chamisso ist einer der wahren Reisenden, wie Claude Lévi-Strauss sie in seinem Reisebericht Traurige Tropen nennt. In seiner Reise um die Welt in den Jahren 1815 - 1818 berichtet Chamisso über seine Erlebnisse. Seine Reisebeschreibung ist ein fast in Vergessenheit geratener Schatz der Reiseliteratur, 2012 endlich als Reprint wieder veröffentlicht. 2014 kam Ulrike Ottingers neuester Film, Chamissos Schatten, in die Kinos, in dem sie ihr Publikum mit auf Chamissos Weltreise bis in die weit entfernten Regionen des Beringmeers nimmt. Wenn auch nicht mit Siebenmeilenstiefeln, wie sein Protagonist Peter Schlemihl, der seinem Schatten, der seine verlorene Seele ist, über alle Kontinente nachjagt, durchforscht Chamisso die Welt nach Neuem, Unbekanntem und Merkwürdigem. Sein Leitmotiv formuliert er in seinem Logbuch: Ich habe wohl in meinem Leben Märchen geschrieben, aber ich hüte mich, in der Wissenschaft die Phantasie über das Wahrgenommene hinausschweifen zu lassen.
Chamissos Schlemihl ist eine psychologische Parabel, die vom verlorenen Selbst handelt, dem Verlust der Identität, verwandt mit E.T.A. Hoffmanns Doppelgänger-Erzählungen und Wilhelm Hauffs Das kalte Herz. Doch Chamisso war ein auch politisch bewusster Zeitgenosse, dessen Verwicklung in die gesellschaftlichen Umwälzungen seiner Epoche anklingen, wenn er in wenigen Sätzen die Entstehung seines Märchens erläutert: Die Weltereignisse im Jahre 1813, an denen ich nicht tätigen Anteil nehmen durfte – ich hatte ja kein Vaterland mehr, oder noch kein Vaterland, – zerrissen mich wiederholt vielfältig, ohne mich von meiner Bahn abzulenken. Ich schrieb in diesem Sommer, um mich zu zerstreuen und die Kinder eines Freundes zu ergötzen, das Märchen Peter Schlemihl, das in Deutschland günstig aufgenommen und in England volkstümlich geworden ist. Es sind die Befreiungskriege gegen den napoleonischen Imperialismus und das Erwachen eines neuen deutschen Nationalbewusstseins, worauf der Dichter anspielt, an denen er als in Preußen lebender Franzose nicht teilnehmen konnte. Chamisso schöpft in seinem Werk aus Mythen, die er auf tolkiensche Weise nachbildet, und aus wissenschaftlichen Sachverhalten wie dies heute nicht mehr möglich ist. An der Schwelle meines dritten Alters kommen mir diese Erzählungen wieder in den Sinn, denn ich fühle mich vor Herausforderungen gestellt, die auch die Protagonisten dieser Autoren bewältigen müssen.

Kirch-Polkritz ist ein kleiner Weiler. Außer der Kirche und dem falschen Grab gibt es nur ein paar in die Jahre gekommene Häuser, zwischen denen hindurch der Elberadweg schnell auf die Landstraße nach Stendal führt. Aber auch diese Feldsteinkirche ist erstaunlich alt. Sie stammt aus dem 12. Jahrhundert, als die Christianisierung Brandenburgs gerade erst an Fahrt aufnahm. Diese Zeugen einer doch recht fernen Vergangenheit machen die ehemalige Bedeutung dieser inzwischen in historischer Bedeutungslosigkeit versunkenen Orte aufdringlich bewusst.
Nach Hohenberg-Krusemark, wo ich übernachten will, führt der Weg durch ein Wäldchen. Der Radweg verläuft neben einer sandigen Piste, die für den Forstverkehr angelegt wurde. Doch der Wald ist nur ein schmaler Steifen, der an einer Eigenheimsiedlung, die sich Schwarzholz nennt, endet. Eine lange, menschenleere Straße, mehrere kleine Weiler, Wohnplätze genannt, Reihenhäuser mit rechts und links parkenden Autos. Auf der gegenüberliegenden Seite führt eine misstrauisch zu mir herüber blickende Frau ihrem Hund spazieren. Grußlos geht sie an mir vorbei. Die nächste Landstraße führt leicht bergan auf den nächsten Windpark zu, einer jener Produktionsstätten, die der Mark Brandenburg zu einer neuen, wirtschaftlichen Bedeutung verhelfen sollen. Aber bevor ich die Windräder mit ihren kreisenden Propellern erreiche, biegt der Elberadweg nach Hohenberg-Krusemark ab, einem weiteren Zentrum des Reitsports, ein weiteres Dorf der Einfamilien-Eigenheime, menschenleer wie all die anderen. Am Ortseingang imponiert eine Gedenkstätte der adeligen Familie Krusemark.
Das Geschlecht derer von Krusemark gehört nicht zu den ältesten, wohl aber zu den angesehensten märkischen Adelsgeschlechtern, dass 1298 erstmals erwähnt wurde und im 17. Jahrhundert seine größte Blüte erlebte. Ihr Wappen auf dem Gedenkstein am Ortseingang: ein goldener Armleuchter im roten Feld und ein weißer Schwan auf dem Helm. Im späten 13. Jahrhundert begleitete ein gewisser Johann von Krusemark den Markgrafen Herrmann von Spandau nach Nürnberg. Grabdenkmäler in der Kirche von Krusemark erinnern an diese adeligen Herren und ihre Zeit, die besonders einen Erdmann von Krusemark hervorheben, der nach einer militärischen Karriere am 5. Mai 1717 in Krusemark gestorben ist. Auf seinem Grabmal ein Leitmotiv, dass mich daran erinnert, das wir alle Pilger sind, unabhängig davon, ob es uns bewusst ist oder nicht: Alles hier ist voll Unruh. Sei gegrüßt endlich, du wahre Ruh.
In der Pension in Krusemark werde ich freundlich empfangen. Etwas zu essen oder zu trinken kann ich im Ort nicht kaufen, aber die Pension ist vorbereitet und hat Getränke vorrätig. Was ich denn trinken will? Später gibt es noch eine Pizza, die mir meine Gastgeber durch einen Pizza-Boten bringen lassen.

Literatur

Julia Reuter und Veronika Graf, Spiritueller Tourismus auf dem Jakobsweg. Zwischen Sinnsuche und Kommerz, in: Patrick Reiser und Christian Kurrat (hg.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge auf dem Jakobsweg, Münster, 2014:139-160.
Robert Mcfarlane, Karte der Wildnis, Berlin, 2015:113.
Mark Epstein, Gedanken ohne Denker. Das Wechselspiel von Buddhismus und Psychotherapie, Franfurt a.M., 1996:51.

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