Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Eine Stadt ist nichts anderes. Wer beides durchwandert, bekommt das zu spüren. Früh Morgens bin ich unterwegs zum Südstern, um mit der U7 nach Spandau zu fahren, und weiter mit dem Zug nach Wilsnack. Dorthin, wo ich im Frühjahr die erste Fußreise meines Lebens unterbrochen habe. Als ich Anfang April von Wilsnack zurück nach Berlin fuhr, kreisten meine Gedanken bereits um Tangermünde. Doch jetzt, wo es losgeht, fühle ich mich müde und erschöpft. Lustlos packe ich meinen Rucksack, bin unausgeschlafen und über mein schlechtes Körpergefühl beunruhigt. Ich fühle mich schlecht vorbereitet, nichts scheint mir genug und ausreichend. Auf dem Weg zur U-Bahn zerren die Gurte des Rucksacks an meinen Schultern, der doch leichter sein sollte als auf der letzten Fußreise.
Trotz der frühen Stunde ist das Abteil der ODEG nach Wittenberge gut gefüllt. Himmelfahrt in Berlin. Es ist Feiertag, und genau wie damals, aa Ostern nehme ich den heutigen Tag metaphorisch. Allmählich fällt der Druck von mir, und ich freue mich auf die Fortsetuzung meiner Fußreise, die mir vor Wochen wie eine Wiedergeburt vorkam. Ich habe die beiden Fußreisen nicht bewusst an diesen Feiertagen geplant. Es hat sich in den letzten Wochen meines Erwerbslebens so ergeben. Die Urlaubsplanung im Team war darfür verantwortlich. Im Zug muss ich stehen, denn viele wollen hinaus aus der Stadt aufs Land. Das große Versprechen von Freiheit, die Illusion, man könnte der Stadt noch entrinnen, wenn man sich erst einmal auf ihren Bann eingelassen hat. Nicht nur die Landschaft besitzt Magie. Manchmal scheint mir, die Stadt kann das noch viel besser. Mehrere Fahrräder sind an einer Seite des Zugabteils aneinander gelehnt, die Klappsitze auf der gegenüberliegenden Seite alle besetzt. Ich quetsche mich mit meinem Rucksack auf einen viel zu engen Sitz und ernte entnervte Blicke von dem Paar, das nun zusammenrücken muss.
Die meisten Radler steigen mit mir in Wilsnack aus. Irritiert stehe ich auf dem Bahnsteig, erkenne nicht wieder, was ich erst vor ein paar Wochen verlassen habe. Ich habe keinen Moment daran gezweifelt, mich sofort zurechtzufinden. Suchend gehe ich in jede Richtung, bis ich das illustrierte Bahnhofgebäude auf der anderen Seite entdecke. Im Bahnhofscafé trinke ich schnell den nun gar nicht mehr so schmackhaften Cappuccino. Dann bin ich unterwegs in die Stadt, zur einstigen Wunderblutkirche, die sich dieses Rufs nicht schämt. Zu lukrativ um einfach vorüberzugehen, zieht die mittelalterliche Aura der Kirche immer noch Besucher an. Ich verlaufe mich ein zweites Mal, ich bin mir zu sicher, dass ich mich vom letzten Besuch noch auskenne. Nirgendwo ragt der klobige Kirchturm mit seiner lächerlich kleinen Spitze über den eingeschossigen Wohnhäuser. Dann erkenne ich die Kreuzung mit dem Irish Pub auf der Ecke, der vor ein paar Wochen noch geschlossen war. Heute, am Herrentag, so heißt im Ostdeutschland den Vatertag, ist jedes Café und jedes Restaurant am Marktplatz geöffnet. Vor den Türen auf dem Bürgersteig versammeln sich lautstark Gruppen von Männern für ihren großen Auftritt. Ihr Ausflug in die Natur ist dem Alkohol gewidmet. Doch für mich gibt es weitaus mehr in der Natur. Mein Leitmotiv für meine zweite Fußreise leihe ich mir von Martin Heidegger aus, der in sein Hüttenbüchlein notiert hat: Weg und Waage, / Steg und Sage / finden sich in einem Gang. // Geh und trage / Fehl und Frage / deinen einen Pfad entlang.
Auf einem asphaltierten Weg, der zwischen Feldern verläuft, verlasse ich trödelnd Wilsnack. Unterwegs begegne ich immer wieder den Herrentaglern, die mit Fahrrad, Bollerwagen, Bier und lautem Hupen durch die Flur flanieren. Bis Legde ändert sich nicht viel: Felder auf der rechten Seite, links sieht es nicht anders aus. Grauen, teils rissigen Asphalt unter meinen Füßen trete ich die monotone Straße so lange, bis meine Augen ermüden. Erst kurz vor dem Ortsschild bleibt mein Blick an einer Herde rotbrauner Rinder hängen, aus abgelegenen Gegenden der schottischen Highlands verschleppt, zottelig, Fellsträhnen über der Stirn, bis über die Augen fallend, mit symmetrischen, aufwärts gebogenen ausladenden Hörnern, farbige Flecken im ausgedehnten Grün der Landschaft. Skurril, die fremden Rinder in der Prignitz zu sehen. Immer noch besser, denke ich, als Lamas oder Strauße. Neugierige Blicke treffen mich, als ich einen Moment stehen bleibe. Mir scheint, auch sie sehen verwundert zu mir herüber. Gegenüber in der Schutzhütte sitzen grölende Jugendliche beim Feiertagsbier. Ihr Wortführer trägt einen Hörnerhelm wie ihn die Wikinger im Kino tragen und schwingt mit alkoholgeröteten Wangen beschwingte Reden.
Die Gemeinde Legde-Quitzöbel liegt noch in der Prignitz, im Land Brandenburg. Sie ist ein freiwilliger Zusammenschluss von ehemals vier selbstständigen Gemeinden: Legde, Lennewitz, Quitzöbel und Roddan. Namen aus einer anderen Welt; vermutlich slawisch, noch aus der Zeit, bevor landhungrige deutsche Kaiser über die Elbe nach Osten drängten. Legde ist ein kleines Dorf mit etwa 250 Einwohnern, erstmals 1274 im Zusammenhang mit einem Grenzstreit zwischen Legde und Roddan erwähnt. An der gotischen Backsteinkirche aus dem 15. Jahrhundert, mit dem mächtigen Turm im Zentrum eines Dorfes mit Vierseitenhöfen, gehe ich schnell vorüber. Es soll am Weg Sehenswertes liegen, aber noch bin ich nicht so weit. Neugieriger macht mich das Sandsteindenkmal des Raubritters Quitzow, von dem ich manches gehört habe. Das Denkmal, unter dem auch sein Pferd begraben sein soll, steht direkt an der Dorfstraße. Dietrich von Quitzow, der hier begraben liegt, heißt im Volksmund der Roland. Ob nach dem Vasallen Karls des Großen und Helden von Roncesvalles, weiß ich nicht. Der hiesige Roland ist ein sehr zweilichtiger Held, der in seiner Zeit die Gemüter so sehr bewegte, das er nicht vergessen ist. 1593 soll er an dieser Stelle erschlagen worden sein, was ihn mit Karls heldenmütigen Vasallen verbindet. Die mündliche Überlieferung erzählt, dass Dietrichs eigene Leute ihn erschlugen, als er von der Jagd heimkam und er ihnen ihren Sold verweigerte. Schade, dass Fontane nichts über diesen ungewöhnlichen Ritter mitteilt, sondern ausführlich über den unsäglichen Streit eines Hans von Quitzow mit dem benachbarten Kloster Lehnin berichtet, der den Quitzows zu mehr Macht verhelfen sollte.
Gegenüber der Kirche sitze ich auf der Mauer einer aufgegebenen Gaststätte. Nicht viel Verkehr herrscht an der Kreuzung, keine Menschen, und erst recht keine Fußgänger. Dafür entschädigt mich ein Motorradclub auf Herrentour für die fast schon aufdringliche Stille. Dutzende Maschinen knattern durch den Ort, die eine exklusiver als die andere. Kreative Grafittis im Szenejargon. Gelegentlich Radwanderer, immer zu zweit. Mann und Frau, als ob es zu schwierig ist, allein zu sein. Die Straße ins zwei Kilometer entfernte Lennewitz teile ich mir mit den Motorrädern, die heute zahlreich unterwegs sind, und mit dem einen oder anderen PKW. Unter den Bäumen einer Allee, die wohltuend Schatten spendet, finde ich mit klappernden Stöcken den Takt für meinen Gang. Zwischen den Rhythmus des Klack-Klack, eng am Straßenrand entlang, mischt sich Vogelgesang. Ein historischer Meilenstein der preußischen Post weist den Weg nach Lennewitz. 2006 lebten hier nur noch 35 Einwohner. Es ist überall das selbe: der Osten stirbt. Erwähnt wird der Ort unter dem slawischen Namen Leneuiz erstmals 1310, ein Name, der von len, Faulpelz, abgeleitet wird. Ob die Einwohner, wie ich, auch Müßiggang und Entschleunigung lieben? Interessant ist die zierliche Kirche, die mitten im Ort steht, und eher einer Kapelle gleicht. Sie wurde 1909 als Jugendstilbauwerk errichtet und unterscheidet sich sehr von der Feldsteinbauweise der Wehrkirchen der Prignitz. Die Pläne dazu stammen von dem Berliner Architekten Georg Büttner, die Verzierungen vom Kunstmalereiunternehmen Otto Linnemann aus Frankfurt am Main, ein überregionales Projekt im beschaulichen Lennewitz.
Quitzöbel heißt der nächste Ort am Weg. Ein Name, der an alten märkischen Adel erinnert. Fontane weiß in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg einiges über dieses alte Adelsgeschlecht zu berichten. Quitzöbel, das dritte Dorf des freiwilligen Zusammenschlusses von 2002 war einst der Stammsitz des märkischen Adelsgeschlechts von Quitzow. Seit 1310 ist der Ort als Quitzhovel, Quitzows Hügel, dokumentiert. Im 17. Jahrhundert übernahmen die von Bülow das Dorf. 2006 lebten in Quitzöbel noch 310 Einwohner. Selbst am Feiertag liegt der Ort verlassen, die Straßen sind menschenleer. Quitzöbel unterscheidet sich nicht von den vielen anderen, die ich in den letzten Monaten in Brandenburg besucht habe. Eine Mischung aus neuen und historischen Gebäuden, die alten mehrstöckig, die Neubauten kommen mit einem Stockwerk aus. Immer liegen die Häuser in Gärten, die sich wie Perlen auf der Schnur eine Hauptstraße entlangziehen. Nur gelegentlich führt eine Nebenstraße einige hundert Meter von der Dorfstraße weg.
Quitzöbel und das mächtige Adelsgeschlecht derer von Quitzow, die das Geschick der Region lange Zeit und nachhaltig beeinflusst haben, sind eins. Die von Quitzow sind wahrscheinlich Ende des 12. Jahrhunderts in die Prignitz gekommen, seit 1366 auch bezeugt. In dieser Region überschnitten sich einst die geopolitischen Interessen der Askanier und der Bischöfe von Havelberg, vor deren Konkurrenz das Leben von Dietrich von Quitzow verlief.
Die unrühmliche Geschichte des märkischen Raubritters liest sich wie ein Jugendbuch über ehrenhafte Ritter, sittsame Burgfräulein und ihre finsteren Geschwister, die Raubritter. Dietrich von Quitzow (1366 - 1417), markgräflicher Rat und Vogt zu Wredenhagen, dessen Denkmal in Legde steht, war zusammen mit seinem Bruder Johann einer der gefürchteten und weithin bekannten Raubritter Ende des 14. Jahrhunderts. Nach Kaiser Karl IV. Tod wurde die Mark Brandenburg zum Spielball partikulärer Interessen des regionalen Adels. Die Familien von Quitzow, Gans zu Putlitz und von Bredow nutzen das Machtvakuum und bereicherten sich durch Brandschatzung und Plünderung. Dietrich und Johann von Quitzow machten sich einen Namen als die grausamsten und hinterlistigsten Machthaber. 1391 belagerten sie Milow bei Rathenow, wurden aber geschlagen. Albrecht IV. von Querfurt, seinerzeit Erzbischof von Magdeburg, arrestierte Dietrich für vier Jahre. Nach seiner Freilassung beteiligte er sich mit seinem Bruder Johann an den Raubzügen seines Vaters Kuno, Herr auf Burg Kletzke, die sie ab 1399 auf die gesamte Mark Brandenburg ausdehnten. Später gingen die Brüder wechselnde Allianzen mit verschiedenen Landesherren ein. Zusammen mit den Herzögen von Pommern fielen sie in den Barnim ein und eroberten in regionalen Kleinkriegen Bötzow, das spätere Oranienburg, die Burg Neumühl sowie die Stadt Strausberg. Mit der Führung der offiziellen Berliner Landestruppen beauftragt, vertrieb Dietrich von Quitzow seine pommerschen Verbündeten und ließ sich als Befreier von Berlin feiern. Seine Eroberungen und Plünderungen in der Mark Brandenburg führte er aber ungehindert weiter und eroberte 1405 Saarmund sowie die Burg und Stadt Köpenick, sodass er nun bedeutende Handelswege kontrollierte. Obwohl ihm der Rat der Stadt Köpenick 1409 die Gerichtsbarkeit verlieht, kam es zu weiteren Übergriffen.
Die Geschichte schreiben immer die Sieger. Trotz ihres schlechten Rufs und der ihnen nachgesagten Grausamkeit, konnten sich die Quitzows, und einige der mit ihnen verbündeten märkischen Adelsfamilien, noch Jahrhunderte nach ihrem Tod, einen Platz in der Literatur sichern. Zwei von der etablierten Literaturwissenschaft sehr unterschiedlich bewertete Autoren nahmen sich des Raubritters und Widerstandskämpfers gegen die hohenzollernsche Hegemonie an: Karl May und Theodor Fontane. Während das Fontane-Gedicht wie ein skaldisches Preislied zu Ehren des Kurfürsten Friedrichs I. klingt, bewahrt Mays Roman etwas von den wirklichen Ursachen des Konflikts: die Konkurrenz zwischen Adelsgeschlechtern um eine Region im Umland von Berlin nachdem Kaiser Karls IV. in Prag gestorben war. Fontane beginnt sein 1898 geschriebenes, friedrich-empathisches, lyrisches Gedicht mit dem Tod dieses Monarchen, zu dessen Hoheitsgebiet die Mark Brandenburg damals gehörte:
Seit Kaiser Karl zu Prag uns starb,
Das Land verkam, das Land verdarb,
Bis Friedrich uns're Mark erwarb,
Das hat die Räuber erschrecket.
Von November 1876 bis Juni 1877 erschien in der Zeitschrift Feierstunden am häuslichen Heerde des Verlags Münschmeyer ein historischer Roman aus den frühen Tagen des Hauses Hohenzollern in Brandenburg, Der beiden Quitzows letzte Fahrten von Karl May, aus dessen Feder aber nur die ersten 19 Lieferungen stammen, da er sich 1877 mit Münschmeyer überwarf, und sich von ihm trennte. May thematisiert in seinem Roman, der in den Jahren 1411 bis 1414 spielt, die politischen Wirren und die damit verbundene Unsicherheit in der Mark Brandenburg. Als die Hohenzollern die Macht übernahmen, und die politische Stabilität wieder herstellen wollten, waren die alteingesessenen Familien Quitzow, Holtzendorff und Gans von Putlitz nicht bereit, sich unterzuordnen. Erst als König Sigismund, Karl des IV. Sohn, den Burggrafen von Nürnberg, Friedrich VI. und späteren Kurfürsten Friedrich I. von Brandenburg, zum neuen Markgrafen eingesetzt hatte, wendete sich das Blatt gegen Dietrich von Quitzow, der durch die militärischen Erfolge Friedrichs seine okkupierten Ländereien aufgeben und fliehen musste. In seinem Gedicht Der Quitzow'en Fall und Untergang schildert Theodor Fontane die letzte Schlacht Dietrichs in markigen Versen:
Die Quitzowschen schwuren einen Eid.
"Wir machen ihm das Land zu Leid"
Und dazu waren sie wohl bereit
Mit ihrem Ingesinde.
"Was soll uns der Nürrenberger Tand?
Ist Spielzeug nur in uns'rer Hand,
Wir sind die Herren in diesem Land
Und wollen es beweisen.
Fontane wählte stolze Worte für den Widerstand der von Quitzow, doch der neue Kurfürst von Brandenburg und seine Alliierten besiegten Dietrich in seiner Burg in Friesack mit Hilfe einer bronzenen Steinbüchse, der faulen Grete von Marienburg, die sich der Kurfürst zu diesem Zweck ausgeliehen hatte. Nach dieser Schlacht und seinem Sieg über die märkische Ritterschaft legte Friedrich die Grundlage für den Aufstieg der Hohenzollern-Dynastie in Brandenburg:
Als das die Fürstenschaft vernahm,
In Hasten alles zusammenkam;
Einem jeden wär' es Schimpf und Scham,
Wär' er da nicht gekommen.
[ . . . ]
Das Wetter war kraus und ungestalt,
Es regnete, schneite und war kalt,
Die Schlösser kamen in unsre Gewalt,
Weil Gott im Himmel es wollte.
Friesack, Plaue, Rathenow,
Und Golzow und Beuthen ebenso,
Sie huldigen Friedrich, und alle sind froh,
Daß Recht Recht bleiben sollte.
Von nun an ständig auf der Flucht, durchstreifte Dietrich plündernd und brandschatzend die Mark Brandenburg bis hinein nach Mecklenburg. 1415 wurde die Reichsacht über ihn und seine Verbündeten, die Stettiner Herzöge, verhängt, die sich daraufhin von Dietrich von Quitzow lossagten. Verarmt und gesundheitlich angeschlagen, fand er eine letzte Zuflucht bei seiner Schwester Mathilde auf Schloss Harbke, wo er am 13. Februar 1417 starb.
Anders als sein Bruder Johann, überliefert die Sage, sei Dietrich Raubritter aus Überzeugung gewesen. Über sein Leben gegen alle Regeln und Konventionen, aber auch seine Gräueltaten berichtet, historisch genauer, der Chronist Engelbert Wusterwitz. Theodor Fontane und Karl May, die dem märkischen Raubritter ein Denkmal setzten, stehen in dieser Tradition. Im Roten Rathaus von Berlin erinnert ein Fries an die Fehde gegen die Quitzows, und im Berliner Stadtteil Moabit, ist eine Straße nach ihm benannt. Seine Geschichte haben die neuen Machthaber geschrieben, die sich ihre eigenen Legitimationen schaffen mussten, dazu ihren Gegner abwerteten, um sich selbst ins rechte Bild zu rücken. Dietrich von Quitzows historische Rolle bleibt ambivalent. Seine Persönlichkeit changiert im Licht der Betrachtung zwischen Raubritter und Widerstandskämpfer. Heute würde man ihn wahrscheinlich einen Terroristen nennen. Seine persönlichen Motive bleiben weitgehend ungeklärt und wirken eher widersprüchlich. Dass sein Name überliefert wird, bezeugt den Eindruck, den er gemacht und hinterlassen hat.
Ein Spielplatz am Ortsende lädt zum Verweilen ein. Ich ziehe Schuhe und Socken aus, mache ein paar Dehnübungen. Ein kleines Picknick im Schatten eines Baums, durch dessen Krone vereinzelte Sonnenstrahlen helle Flecken auf die Wiese malen, macht mich unter dem blauen Himmel dieses schönen Frühlingstags schläfrig. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Inzwischen ist es Mittag und fast schon zu heiß, um weiterzugehen. Die zwanzig Kilometer bis Havelberg lassen mir keine Wahl, wenn ich nicht in der Flussaue übernachten will. Ich schultere meinen Rucksack, und mache mich wieder auf den Weg. Noch bin ich in der Prignitz, nähere mich aber mit zügigen Schritten der Altmark, der Grenze nach Sachsen-Anhalt, dem Ursprung der Mark Brandenburg. Seit der Wende gehört sie politisch zu Sachsen-Anhalt. Vielleicht sind gute topographische Karten der Region deshalb so schwer zu finden, weil niemand für die Grenzregion zuständig ist.
Der erste Tag einer Wanderung ist für mich immer der schwerste; auch der zweite und dritte gehören noch dazu. Eine viertägige Fußreise ist nur in den beiden letzten Tagen ein Genuss, wenn meine Bein- und Rückenmuskeln aufgewacht sind, und sich an das ungewohnte Gewicht gewöhnt haben. Meine Füße kämpfen in dieser Zeit mit ihren eigenen Schwierigkeiten. Noch ist Nachmittag und ich gehe seit ein paar Stunden am Ufer der Havel entlang. Auf dem linken Ufer zieht der Turm des Doms meine Blicke an, wie er trutzig über die kleinen Häuser Havelbergs aufragt. Ein erratischer Klotz, der über der Aue thront. Der Weg durch die Wiesen mäandert in ausgreifenden Kurven vom Ufer fort und wieder zurück, während die Turmspitze in meinem Blickfeld auf und ab springt.
Mittelalterliche und moderne Pilger Ein peregrinus war im frühen Mittelalter der Fremde, der aus welchen Motiven auch immer unterwegs war. Auch falsche Pilger, Räuber und Betrüger, konnten sich in diese Rolle hüllen, und ihre wahren Absichten verbergen, sodass Pilgerfahrten im Mittelalter weitaus gefährlicher waren, als sie es heute sind. Der mittelalterliche Pilger trug verbindliche, wiedererkennbare Kleidung, die seine besondere Rolle nach außen sichtbar machte, sie sozial legitmierte und seinen Körper religiös definierte. Sie verlieh dem Pilger einen offiziellen Rechtsstatus, den habitus peregrinorum, der ihn schützte und unterwegs unterstützte. Als Pilger hatte er nun Anrecht auf juristische Vergünstigungen und Rechtsstillstand während seiner Abwesenheit. Neben Pilgerhut und -umhang, sind im Jakobusbuch Form und Verwendung seiner Tasche und seines Stabs genau definiert, und machten ihn als Pilger kenntlich. Die Tasche war klein, fasste im Vertrauen auf Gott, unter dessen Schutz der Pilger wanderte, nur wenig persönliche Besitztümer. Als Symbol, dass der alte Pilger seinen Besitz mit den Armen teilte und bereit war, zu geben und zu nehmen, musste sie oben offen sein. Der Stab als dritter Fuß des Pilgers symbolisierte die göttliche Trinität. Der Pilger ein franziskanischer oder buddhistischer Betelmönch. Neben seiner Uniform, die ihm ab dem 11. Jahrhundert rituell überreicht wurde, benötigte der mittelalterliche Pilger die Erlaubnis der kirchlichen Autoritäten. Der christliche Ritus des Pilgersegens stellte seine Reise und Heimkehr unter die Glückwünsche und den Schutz Gottes. Fürbitten für aufbrechende Pilger waren bereits im 8. Jahrhundert üblich, finden sich dann aber kanonisiert seit dem 11. Jahrhundert in den liturgischen Büchern. Die eigentliche Funktion des Pilgersegens, damals wie heute, besteht jedoch darin, den Pilger offiziell als solchen zu bestätigen, ihm seine Rolle per Ritual zuzuschreiben. Im Verlauf des Mittelalters differenzierten sich die unterschiedlichsten Typen von Pilgern, die aus verschiedenen Motiven unterwegs waren. Das freie Pilgern ohne festes Ziel des Mönchstums im frühen Mittelalter des 6. bis 8. Jahrhunderts, dass die Athosmönche beibehalten haben, wurde seit dem 8. Jahrhundert durch Pilgerbewegungen an besondere Reliquienorte abgelöst, an denen körperliche Überbleibsel von Heiligen den Gläubigen gezeigt wurden. Diesen mutete man im Sinne einer Kontaktmagie übernatürliche Kräfte zu, die man sich für das alltägliche Leben oder Seelenheil zunutze machen wollte. Die von Heiligen oder Märtyrern hinterlassenen Reliquien, von ihnen benutzte Gegenstände oder Teile ihrer selbst, so glaubte man, behielten über deren Tod hinaus einen Teil ihrer Aura, eine heilsame leiblich spürbare Schwingung, die sich auf den verehrenden Pilger übertrug. Indem der Pilger diese Gegenstände berührte, war es ihm möglich, an diesem persönlichen Kraftfeld zu partizipieren. Im 11. Jahrhundert steigerten Ablässe und Sündennachlässe die Attraktivität des Pilgerns, das im 14. Jahrhundert zur Massenbewegung wurde, da Papst Benedikt VIII. den Gläubigen, die nach Rom pilgerten, den vollsten Ablass gewährte. Pilger, die ein Gelübde abgelegt hatten, das sie zur Pilgerfahrt verpflichtete, Auftrags- und Delegationspilger sowie Straf- und Bußpilger, auch unter körperlich erschwerten Auflagen bestimmte Körperhaltungen einzunehmen oder Ketten und Fußeisen zu tragen, stellten weitere Untertypen mittelalterlichen Pilgern dar. Eine etwas skurrile Form des Pilgern war das Pilgern im Geiste, für Menschen konzipiert, die nicht mehr dazu in der Lage waren, die Mühen einer echten Pilgerfahrt auf sich zu nehmen. Bestimmte kontinuierlich ausgeführte Mund- und Gebetsbewegungen ersetzten das Gehen, etwa 8 000 Vater Unser für den Weg nach Jerusalem oder Santiago de Compostela. Die im Verlauf der Jahrhunderte entwickelten Pilgertypen machen darauf aufmerksam, dass dieser eine hochgradig regulierte, religiöse Sozialfigur war (und noch immer ist), dessen sich die institutionalisierte Kirche zunehmend bemächtigte. In der Gegenwart sind diese Pilgertypen verschwunden. Übrig geblieben ist vielleicht ein Hauch des freien Pilgerns der frühmittelalterlichen Mönche, für die Pilgern eine Lebensform war. Für den neuen Pilger ist dies aber nur bedingt richtig, sodass es besser ist, vom Pilgern als Lebensabschnittsform zu sprechen. Auch wenn M.N. Ebertz augenzwinkernd fragt, ob nicht Pilgern heutzutage eher eine sozialpädagogische Intervention der Krisenbewältigung ist, so verbindet den alten und neuen Pilger doch der Sachverhalt, dass beide nach etwas auf der Suche sind, dass über sie selbst hinausgeht. Es ist deshalb auch nicht falsch, anzunehmen, dass Ärzte, Sozialarbeiter und Psychologen die Priester einer neuen Welt geworden sind, in der nun von Psychotherapie oder Spiritualität statt von Religion gesprochen wird. Ob dabei die Vorgaben wissenschaftlicher Orientierungen dem Individuum einen größeren, spirituellen Spielraum lassen, als im Mittelalter die institutionalisierte Kirche, will ich einmal dahin gestellt sein lassen. Wenn das mittelalterliche Unterwegssein der Pilger von der Kirche dominiert wurde, so unterliegt das moderne Pilgern den Erfordernissen der Tourismusindustrie, die beispielsweise definiert, wie man sich als Pilger oder Wanderer zu kleiden und auszurüsten hat. Den modernen Pilger machen nicht mehr Pilgertasche und Pilgerstab aus, nach einer vorgegebenen Form gefertigt und rituell verliehen, sondern Rucksack und Teleskopstöcke, vor deren Kauf er sich in Fachgeschäften beraten lassen kann. Aber verändert das andere Äußere zugleich das Phänomen und seine soziale und individuelle Funktion? Ich denke, dass das nur teilweise geschieht. Alte Formen lassen sich beliebig mit neuen Inhalten füllen. Die neuen Inhalte verändern die überlieferten Formen aber viel geringer, weil die neuen Inhalte sonst zu sehr Bedeutung und Sinn verändern, und die Form ihren tradierten Sitz im Leben verliert. Moderne Pilgerreisen sind freiwillig und im grenzoffenen Europa an keine Genehmigung mehr gebunden. M.N. Ebertz nennt das Pilgern zurecht entkirchlicht, irrt aber darin, wenn er meint, es bedürfe anderer Steuerungsmittel. Im Gegenteil, die Pilgerfahrt steuert sich durch die Anwesenheit des Pilgergedankens, den Tausende von Pilgern mantraartig ausatmen. Eine fehlende, zentrale Steuerung demokratisiert das Pilgern um so mehr, je weniger Hierarchien eingeführt werden. Je mehr das Pilgern freiwillig und individuell entschieden wird, ohne unmittelbaren Rückgriff auf konfessionelle Institute, desto besser gestalten sich Kontakt und Kommunikation innerhalb der gemeinsam allein Pilgernden. Einen eigenen Rechtsstatus oder Sonderrechte aufgrund seiner für die Gemeinschaft wichtigen Rolle, wie im Mittelalter üblich war, sind dem modernen Pilger nicht nur verwehrt, er braucht sie nicht. Moderne Pilger sind entprivilegiert, die Pilgerfahrt entinstitutionalisiert und von institutionellen Strukturen und Hierarchien weitgehend befreit. Allenfalls spielen private Wertvorstellungen, Vorbilder und Idole eine Rolle bei der Entscheidung für eine Pilgerfahrt. Moderne Pilger unterscheiden sich am deutlichsten dadurch von ihren mittelalterlichen Brüdern und Schwestern, weil für sie die Reliquienorte nicht mehr von zentraler Bedeutung sind. Es ist die Magie des Gehens auf dem Weg, eine Metapher für das Leben selbst, das einen großen Teil der Pilger motiviert. Der moderne Pilger ist nicht konfessionell, er ist spirituell-religiös orientiert, denn sein Blick richtet sich gleichzeitig auf die Mysterien seiner Existenz sowie auf den äußerlich und materiell vorhandenen Pilgerweg. Auf diesem Weg in der äußeren Welt geht er gleichzeitig seinen eigenen inneren Weg, der nicht einfach vorhanden ist, sondern den er sich während des Pilgerns er=geht. Wenn der moderne Pilger die alten Wege geht, ist er sich dessen bewusst, dass vor ihm Jahrhunderte lang Hundertausende oder mehr den gleichen Weg gegangen sind. In ihren Spuren kann er noch immer die mystisch aufgeladene Potenz des Weges spüren. Während Frömmigkeit, und der Glaube an die Unfehlbarkeit der kirchlichen Autoritäten, der Sündennachlass, Leitmotiv des alten Pilgers waren, so ist eine individuell verstandene und gelebte Spiritualität Merkmal des modernen Pilgers. Ein spiritueller Pilger zu sein bedeutet, für eine gewisse Zeit kein geordnetes, an alltäglichen Strukturen orientiertes Lebensziel mehr zu haben. In der Liminalität des Pilgerrituals erneuert er durch das Gehen seinen Lebensweg. Und so wirft sich der Pilger in die Pilgergestalt, und sucht und sucht und findet vielleicht, was ihn unbedingt angeht. |
Es ist ein langer Weg durch die Flussaue nach Havelberg, der zuletzt mühsam wird. Ich bezweifele inzwischen, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin oder mich längst verlaufen habe. Zu weit entfernt liegt der Ort auf der anderen Seite der Havel. Nirgendwo finde ich eine Brücke über den Fluss. Mehrmals frage ich Ausflügler, die mit ihren Kindern am Havelufer entlang spazieren oder in den Flussauen picknicken. Sie alle sind mit dem Auto gekommen, und zeigen geradaus, wo sie eine Brücke vermuten. Und dann sehe ich die Brücke über einen schmalen Wasserlauf, einen vielleicht. Denn die Havel habe ich mir anders vorgestellt. Ich frage einen Mann nach dem Weg nach Havelberg, der trotz Himmelfahrt im Garten arbeitet, bestätigt mir erneut, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Es ist nicht mehr weit bis Havelberg, tröstet er mich. Es dauert eine halbe Stunde, bis ich auf der Elbstraße am Ortsschild vorbei auf einer großen Brücke über die Havel gehe. Eine halbe Stunde klingt nicht viel, ist mit dem Fahrrad oder Auto nur ein Katzensprung. Am Ende einer Wanderung, den ganzen Tag auf den Füßen und gepäckbeladen, macht diese halbe Stunde oft den entscheidenden Unterschied; zwischen zügigem und mühsamem Gehen. Zum ersten Mal im Leben bin ich auf einer Wanderung über zwanzig Kilometer gegangen. Müde und stolz überquere ich die gebogene Brücke in die ehemalige Hansestadt.
In Havelberg, wie in vielen anderen Ortschaften in Brandenburg, lauert die trübselige Atmosphäre des vor kurzem noch anderen Deutschlands in allen Ecken und Winkeln. In diesem Land war die Öffentlichkeit ein problematischer Raum, dessen eine bedrückende Aura die Straßen und Gassen der Stadt noch beherrscht. Feiertägliche Ruhe nachmittgs am Herrentag? Ich glaube nicht. Wenige Menschen sind auf den Straßen unterwegs, viele Fassaden blicken düster auf mich herab, und ich habe das Gefühl, in der Zeit einen Schritt zurück getan zu haben. Jetzt, wo die Touristen wieder zu Hause sind oder in einem Restaurant zu Abend essen, wirkt Havelberg trist und leer. Eine Hansestadt habe ich mir lebendiger vorgestellt.
Ich flaniere durch den stillen Ort, in dem auch nur gelegentlich ein Auto an mir vorbeifährt. Mein Rucksack drückt auf meine Füße, und noch ich hoffe auf ein warmes Abendessen. Doch es ist so hoffnungslos wie es aussieht. Kein Restaurant ist geöffnet, einen Imbiss finde ich nicht. Mir fällt das Hotel mit dem Biergarten an der Brücke wieder ein, gehe zurück und setze mich in einen Sessel auf einer überdachten Veranda. Havelblick! Und warte. Schließlich kommt ein Mann heraus, bei dem ich ein Radler und die Karte bestelle. "Haben Sie die Schilder nicht gesehen", schnautzt er mich an. "Wollen Sie ein Zimmer", fragt er in genervtem Ton. "Das Restaurant ist geschlossen, sehen Sie das nicht." Schon etwas freundlicher fügt er hinzu, dass das Hotel zum Verkauf steht; als ob ich ein Kaufinteressent sei. "Aber Sie können ein Bier haben." Ich warte eine Weile auf mein Bier, doch der Mann kommt nicht zurück. Eine Pilgerherberge gibt es in Havelberg nicht, sodass ich in der Pension Adnieszka, nur einige hundert Meter entfernt, übernachte. Mein Zimmer für die Nacht ist eine umgebaute Garage, ein rechteckiger, enger Schlauch, in dem mich in ein durchgelegenes Bett erwartet. Essen oder trinken kannn ich hier nicht. Ich lade ab und suche mir auf schmerzenden Füßen eine Tankstelle am Ortsrand. Ein Tüte Chips und eine Flasche Bier. Ein Pilgeressen! Ich esse im Bett, versuche wach zu bleiben, um dem Tag nachzusinnen, was mir nicht gelingt.
Literatur
Michael N. Ebertz, Alte und neue Pilger, in: Patrick Heiser und Christian Kurat (Hg.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg, Münster, 2014:91-112.
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