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Freitag, 19. August 2016

Ausklang


Ich glaube inzwischen, dass es nur zwei Motive gibt, die mich auf diese Fußreise gebracht haben. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich letztlich nicht nur aus einem einzigen Grund aufgebrochen bin: um mein Drittes Alter vorzubereiten, neue Erfahrungen mit mir zu machen und diese in mein Leben zu integrieren! Ich habe meine Erlebnisse, Gefühle und Gedanken aufgeschrieben, um mir meine Fußreise und die eigenartigen Umstände, die dazu geführt haben, dass es eine Pilgerfahrt wurde, mir selbst nachvollziehbarer zu machen. Nicht zuletzt um die Atmosphäre des in unmittelbarer Anschauung Er-Reisten und Er-Fahrenen für mich konkreter fassbar zu machen. Doch der Grat zwischen Reiseerzählung, subjektivem Betroffensein und persönlicher Biographie ist schmal und labyrinthisch verschlungen. Eine Reiseschreibung ist mein Erzählen geworden, die bewusst auf die Vorsilbe »be-« verzichtet. Ich habe nichts beschreiben wollen, sondern bin den brandenburgischen Jakobsweg schreibend noch einmal gegangen. Ich habe erzählt, was für jeden anderen erlebbar ist, der sich in seiner sozialen Rolle und Lebenswelt nicht zuhause fühlt, weil sein Leben sich nicht mehr richtig anfühlt oder verändert hat. So verstanden, war mein Pilgerweg auch ein Weg zurück nach Hause.

Samstag, 7. Mai 2016

Am falschen Grab


Ich will mich nicht daran beteiligen, das Angemessene aus den Augen zu verlieren und verlasse das Haus der Regeln gegen neun Uhr. Ich habe es nicht geschafft, alle Anweisungen der strengen Frau zu befolgen. Aber da meine Gastgeber noch nicht aufgestanden sind, muss ich mich nicht rechtfertigen. Ich habe mich bemüht, war aber letztlich überfordert. Als ich die Haustür hinter mir zuzog, hatte ich den Schlüssel in der Hand, den ich auf den Tisch in der Diele legen sollte. Also warf in ihn in den Briefkasten, in der Hoffnung, die strenge Frau kommt darauf, dort nachzusehen. Ich hoffe auch, nicht mehr wiederkommen zu müssen. Zwanghaft sein ist die Übertreibung von Zuverlässigkeit und Ordnung.
Zurück im Ort kaufe ich Proviant beim Discounter ein: Brot, Käse, Schokolade, für die beiden kommenden Tage. Einen isotonischen Drink auf die Schnelle. Mein Bananenvorrat reicht noch für den Tag. Ich gehe den gleichen Weg aus Werben hinaus, den ich in den Ort gekommen bin. Die kurze Rast auf der Bank am Kriegerdenkmal vor dem Portal der Kirche genieße ich in der warmen Morgensonne, die noch nichts von der gestrigen Hitze spüren lässt. Mit Espresso gefüllte Schokolade ersetzt mir den Cappuccino. Hoch über mir fliegen junge Rotmilane um den Kirchturm, wo sie ihren Horst haben. Mit schrillen Freudenrufen erheben sie sich in die Lüfte. Von der Schwere der Erde gelöst, gleiten sie mit ausgebreiteten Schwingen befreit am wolkenlosen Himmel dahin. Während ich ihrem schwerelosen Flug zuschaue, denke ich an mein Gepäck, und bin ich mir sicher, dass ich sie beneide.

Freitag, 6. Mai 2016

Der Charme der Beliebigkeit


Nach einer traumlosen Nacht fühle ich mich heute morgen unausgeschlafen. Ich empfinde ich es als Zumutung, aufzustehen und weiter zu gehen. Wüsste ich nicht längst, dass ich schließlich doch aufbrechen werde, ich wäre liegen geblieben. Noch bin ich in Havelberg und nicht am Ziel. Die Sonne scheint durch die kleinen Fenster und das morgendliche Vogelkonzert lässt sich nicht länger ignorieren. Es klingt immer dringender nach Aufbruch. In der Wohnküche der Pension erwartet mich ein opulentes Frühstücksbuffet. Drei Männer und ein kleiner Junge leisten mir Gesellschaft. Das Gespräch kreist um die kommenden Urlaube des Jahres und ob Amrum oder al-Andalus die bessere Wahl ist. Ein A führen jedenfalls beide im Namen. Wie es unter Männern oft der Fall ist, sind Besserwisserei und Selbstdarstellung der weitaus wichtigste Teil der Unterhaltung, die der kleine Junge mit gelangweilten Blicken kommentiert.

Donnerstag, 5. Mai 2016

Raubritter und eine Hansestadt an der Elbe


Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Eine Stadt ist nichts anderes. Wer beides durchwandert, bekommt das zu spüren. Früh Morgens bin ich unterwegs zum Südstern, um mit der U7 nach Spandau zu fahren, und weiter mit dem Zug nach Wilsnack. Dorthin, wo ich im Frühjahr die erste Fußreise meines Lebens unterbrochen habe. Als ich Anfang April von Wilsnack zurück nach Berlin fuhr, kreisten meine Gedanken bereits um Tangermünde. Doch jetzt, wo es losgeht, fühle ich mich müde und erschöpft. Lustlos packe ich meinen Rucksack, bin unausgeschlafen und über mein schlechtes Körpergefühl beunruhigt. Ich fühle mich schlecht vorbereitet, nichts scheint mir genug und ausreichend. Auf dem Weg zur U-Bahn zerren die Gurte des Rucksacks an meinen Schultern, der doch leichter sein sollte als auf der letzten Fußreise.
Trotz der frühen Stunde ist das Abteil der ODEG nach Wittenberge gut gefüllt. Himmelfahrt in Berlin. Es ist Feiertag, und genau wie damals, aa Ostern nehme ich den heutigen Tag metaphorisch. Allmählich fällt der Druck von mir, und ich freue mich auf die Fortsetuzung meiner Fußreise, die mir vor Wochen wie eine Wiedergeburt vorkam. Ich habe die beiden Fußreisen nicht bewusst an diesen Feiertagen geplant. Es hat sich in den letzten Wochen meines Erwerbslebens so ergeben. Die Urlaubsplanung im Team war darfür verantwortlich. Im Zug muss ich stehen, denn viele wollen hinaus aus der Stadt aufs Land. Das große Versprechen von Freiheit, die Illusion, man könnte der Stadt noch entrinnen, wenn man sich erst einmal auf ihren Bann eingelassen hat. Nicht nur die Landschaft besitzt Magie. Manchmal scheint mir, die Stadt kann das noch viel besser. Mehrere Fahrräder sind an einer Seite des Zugabteils aneinander gelehnt, die Klappsitze auf der gegenüberliegenden Seite alle besetzt. Ich quetsche mich mit meinem Rucksack auf einen viel zu engen Sitz und ernte entnervte Blicke von dem Paar, das nun zusammenrücken muss.

Sonntag, 1. Mai 2016

Zwischenspiel


Mein eigener Schatten ist auf dem Pilgerweg ein verlässlicher Begleiter geworden. Selbst wenn die Sonne nicht scheint, ist er anwesend, obwohl ich ihn dann nur ahne. Doch bereits der nächste Sonnenstrahl bezeugt seine Anwesenheit. Der Schatten ist das wahre Selbstportrait des Pilgers, den ich nicht aufrollen will wie Peter Schlemihl es tat, der damit seine Seele weggab. War es sein Schatten, der Philip Pullman inspirierte, seinen Figuren einen Dæmon mitzugeben, von dem sie sich nur unter Schmerzen trennen konnten? Ich schaue zu, wie mein Schatten vor mir über den Boden schwebt. Ein anderes Mal ziehe ich ihn wie einen Sack hinter mir her, mit allem, was ich im Lauf meines Lebens hineingepackt habe, um es hinter mir zu lassen.

Samstag, 2. April 2016

Die Kirche der musizierenden Engel


Stadtluft macht schon lange nicht mehr frei, vielmehr macht sie krank, das habe ich bereits erwähnt. Diese Sentenz erinnert den postmodernen Menschen an ein anderes Leitmotiv aus vergangener Zeit: Zurück zur Natur! Fontanes Statement, dass Reisende, die sich in die Mark aufmachen, mit einem feineren Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet sein müssen, ist hilfreich, wenn es darum geht, die Fremde vor der eignen Haustüre zu erkunden: das Besondere auch im Gewohnten zu finden. Das Zeitalter des Ferntourismus mit dem modernen Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wir möglich mit der Fremde bekommt, denn er findet dort nur seine eigene Umgebung, in der er sich wie zuhause fühlen kann. Weit ist er gekommen, doch gefunden hat er nichts, außer dem, was er schon immer kennt. Wer im Nahraum wandert, wer sich dabei von den touristischen Angeboten weitgehend fernhält, der findet eine ganz besondere Fremde vor, mit der er zuerst gar nicht gerechnet hat. Brandenburg ist das Umland von Berlin, könnte man meinen. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe zu haben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und rundherum durch Brandenburg zurück nach Berlin.

Freitag, 1. April 2016

In inneren und äußeren Räumen


Ich frage mich, ob es salutogenetisch wichtig ist, ob Einsamkeit bewusst und absichtlich gewählt oder als Zumutung des Schicksals erlebt wird. Das Schicksal führt nur den Willigen, heißt es, der bereit ist, loszulassen und zu akzeptieren. Liebe und Leid, die schwierigen Schwestern der indoeuropäischen Mythologie. Sie sind immer zu dritt, um auch dem Übergang der Gegenwart ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Nornen und Moiren, das sind die weisen alten Frauen, denen wir uns alle stellen müssen. Vielleicht entspricht es meinem Selbstentwurf, auch allein glücklich zu sein, weil ich dann besser zu mir finde? Vielleicht sind alle Bemühungen um soziale Beziehungen immer auch fremdbestimmt und äußerlich? Gibt es ein richtiges Leben im falschen?, fragt Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia. Ich glaube nicht. Außer jemand redet sich ein, dass Konventionen und Kompromisse das richtige Leben abbilden. Mit diesen Gedanken komme ich heute morgen schwer aus dem warmen Schlafsack. Es wird gerade hell, und im Turm der Barsikower Kirche ist es eisig kalt. Jetzt Ende März hat das Kirchengemäuer noch nicht bemerkt, dass es sich draußen frühlingshaft regt. Doch es dämmert bereits und ich will früh aufbrechen.

Donnerstag, 31. März 2016

Pilgerzeichen auf alten Glocken


Am nächsten Morgen wache ich wieder ungewöhnlich früh auf. Das Fenster ist beschlagen. Außen folgen Regentropfen in dünnen Schlieren der Erdanziehung und zeichnen skurrile Wasserbilder auf die Scheiben. Durch ein regennasses Fenster blicke ich auf eine tieforang angestrahlte Wolkenlandschaft, hinter der sich die Sonne für einen Augenblick die Ehre gibt. Hoffnung auf gutes Wetter. Noch während ich zuschaue, wird das Leuchten schwächer, verblasst und verschwindet schließlich in den schweren nassen Wolken, die tief am Himmel hängen wie in einem nassen Sack. Der lichte Hoffnungsstreifen am Horizont verlöscht. Schneller als ich mir wünsche, kommt der Regen zurück.
Ich entscheide mich für einen Poncho und damit für Neuruppin, die Kreisstadt, wo ich hoffe, ein Sportgeschäft zu finden. Damit entscheide ich mich auch für die zweite Busfahrt meiner Fußreise. An der Haltestelle stehe ich mit vielen anderen im Nieselregen auf der Straße und warte auf den Bus. Die Fenster des historischen Postgebäude gegenüber, das ich gestern noch für aufgegeben hielt, sind hell erleuchtet. Eine Stunde später komme ich in Neuruppin an, mit all den Pendlern, auf dem Weg zur Arbeit. So viele Jahre bin ich selbst diesen Weg gegangen, nun froh darüber einen anderen Weg gefunden zu haben. Die lange Fahrt durch ein Industriegebiet geht in eines dieser ewig gleichen Wohnsilos der Stadtränder über, löst sich auf in die in brandenburgisch-preußischer Manier geometrisch realisierte Stadtanlage, das historische Neuruppin. Ich stehe im Regen vor einer großen Pfarrkirche in der Altstadt, von wo die Busse in alle Richtungen abfahren. Der nach Fehrbellin fährt nur dreimal am Tag. Gegenüber das Stadtcafé, mehr ein Kiosk. Meine Hoffnung auf einen heißen, anregenden Cappuccino steigt. Schließlich drückt mir eine hektische Frau einen Pott Filterkaffee in die Hand, den ich nach dem zweiten Schluck ungesehen in einem Blumentopf entsorge. Hundert Meter weiter finde ich ein Sportgeschäft mit einem gesprächigen Verkäufer, der mich ausführlich ausfragt. Er ist der erste, der das Heilige Jahr in Aachen, meiner Heimatstadt, erwähnt, an eine andere, bedeutende mittelalterliche Wallfahrt erinnert. Alle sieben Jahre werden dort Reliquien aus der Frühzeit des Christentums zur Schau gestellt.

Mittwoch, 30. März 2016

Ein Regentag im Luch


Ich schaue aus dem Fenster nach draußen in den beginnenden Tag und sehe nichts als eine bedrückende Grauheit, die sich dicht und schwer vor Nässe über Flatow ausdehnt. Augenblicklich bin ich bedient von dem Gedanken, heute aufzustehen und weiterzugehen. Weiter zu wollen, kommt mir gar nicht in den Sinn. Die Straße glänzt nass unter den Straßenlaternen, die noch nicht ausgeschaltet sind. Die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos reflektieren in großen Wasserlachen, in denen der fallende Regen konzentrische Kreise zeichnet wie Steine, die ausgelassene Kinder in einen Tümpel werfen. Nur die Molche und Frösche lassen auf sich warten, die in meiner Kindheit in den vielen verschwundenen Teichen lebten.
Im strömenden Regen gehe ich hinüber in den Dorfladen, an dem ich gestern Nachmittag vorbeikam. Er gehört zu einem Gehöft, dessen großer Innenhof von Gebäuden wie eine Festung umgeben ist. Durch die Toreinfahrt sehe ich in der hintersten Ecke des Hofs ein beleuchtetes Fenster, hinter dem ich den Laden vermute. Kein Mensch ist zu sehen. Das Angebot an Lebensmitteln ist überraschend einfach und unvollständig: frische Brötchen, Kuchen, Käse, Wurst und einige Konserven; Getränke in Mehrwegflaschen. Die Kühltheke und die Regale sind nicht einmal halb gefüllt. Nach Obst halte ich vergeblich Ausschau, das produzieren und verarbeiten die Dörfer selbst. Dafür gibt es hier keine Nachfrage. Im Berliner Überfluss habe ich vergessen, dass der allzeit bereite Überfluss an Waren nicht selbstverständlich ist.
Ein alter Mann kommt vornübergebeugt und mit schleppendem Schritt aus einem Hinterzimmer an die Ladentheke. Humpelnd, gebrechlich, bedient er mich mit langsamen Bewegungen. Slow Motion! Ich kaufe mir zum Frühstück zwei der Brötchen, und da es außer Wurst kaum Anderes gibt, dass ich essen will, kann ich zwei Schmelzkäseecken einzeln aus der Schachtel bekommen. Ein Stück Kuchen, etwas das wie eine Nussecke aussieht, für später am Tag, lasse ich mir noch in die Tüte packen, in der meine Einkäufe nun durcheinander liegen. Proviant, der bis zum Abend reichen soll. Wie denn die Wettervorhersage lautet, frage ich den Alten. Der brummt etwas Unverständliches vor sich hin, blickt vielsagend durch die Scheibe des Ladens nach draußen, und winkt lächelnd ab.

Montag, 28. März 2016

Endlich auf dem Jakobsweg


Ich bin wieder in Hennigsdorf. Es ist neun Uhr morgens. Ostermontag. Noch ein Feiertag, an dem kein Bus nach Bötzow fährt. Ich habe mir vorgenommen den gleichen Weg wie gestern nicht noch einmal zu gehen, und mit dem Bus nach Bötzow zu fahren. Es verkehrt nur ein Bus bis Marwitz und von dort weiter nach Oranienburg, Orte, die nicht auf meinem Weg liegen. "Fahren Sie doch bis Marwitz mit", schlägt mir ein gutgelaunter Busfahrer vor. "Sie können dann hinüber nach Bötzow laufen." Ich steige ein, in Marwitz aus, und suche nach den Pilgerweg. Aber den Weg nach Bötzow finde ich nicht.
Über Marwitz wölbt sich ein blauer Himmel, von dem warm die Sonne scheint. Heute bin ich zu warm angezogen und gerate schnell ins Schwitzen. Mein Rucksack drückt schwer auf Schultern und Hüften. Noch während ich orientierungslos die Straße, auf der mich der Bus abgesetzt hat, entlanglaufe, ermüden meine Beinmuskeln. Sie empören sich unter der ungewohnten Last, und sind nicht so enthusiastisch wie ich mich fühle. So früh am Morgen ist niemand unterwegs, den ich nach dem Weg fragen kann. Ich suche mir auf der Karte einen Weg aus dem Ort hinaus, der mir vernünftig erscheint, irre mich aber in der Richtung. Nach einigen hundert Metern kehre ich um, gehe zurück zur Bushaltestelle. In der Ferne kommt mir jemand entgegen, den ich fragen will.
Was nun beginnt, ist mein persönliches Marwitz-Dilemma. Ich gehe dem einsamen Spaziergänger entgegen, frage nach dem Weg nach Bötzow und dem Pilgerweg. Er weist in die Richtung, aus der ich gerade komme, murmelt Unverständliches, geht aber, ohne anzuhalten zügig weiter. Ich gehe neben ihm her, versuche ein Gespräch, dass aber nicht zustande kommt. Wir reden aneinander vorbei, ohne Blickkontakt. Ich habe nicht den Eindruck, dass er mich versteht. Auf einem großen Grundstück an der Ortsgrenze, in der Nachbarschaft eines Netto-Marktes, sollen Unterkünfte für 146 Geflüchtete entstehen. Davon erzählt mir erbost der merkwürdige Mann, emotionslos wie ein Nachrichtensprecher, ohne sich persönlich an mich zu wenden. Ich versuche mit seinem schnellen Schritt mitzuhalten. Ohne Gruß, ohne mich noch einmal anzusehen, biegt er plötzlich auf den Parkplatz des Discounters ab und verschwindet zwischen den Häusern. Inzwischen bezweifle ich, dass dieser seltsame Kauz ortskundig ist.

Sonntag, 27. März 2016

Ein missglückter Aufbruch


Aufbruch. Ein Anfang. Eine Wiedergeburt. Ich habe den heutigen Tag bewusst für meinen Aufbruch gewählt. Es ist Ostersonntag. Die Christen feiern die Auferstehung des Gottessohns von den Toten, unsere heidnischen Vorfahren einst das Erwachen der Natur. Mir ist bewusst, dass ich aufbrechen muss. Um was zu finden? Ostern ist das Fest der Wiedergeburt, der Auferstehung. Wie ich es auch betrachte: Es ist eine Auferstehung, eine Wiedergeburt.
Und es ist Frühling, trotz des böigen Windes. Das Leben erwacht für ein neues Jahr und ich beginne einen neuen Lebensabschnitt. Der Wind bläst in schnell aufeinanderfolgenden Böen. Und er ist kalt. Ein blauer Himmel mit Sonne hat mich am Morgen verführt, und nun bin ich zu dünn angezogen. Der Tag ist trocken, aber die für den heutigen Ostersonntag versprochene Sonnenwärme fehlt.  Inzwischen ist der Himmel zugezogen und die Luft so kalt, dass ich die Wärme der Sonne nicht mehr spüre, die der Wind schnell verbläst. Dunkle Regenwolken ziehen auf und sperren die Sonne ist aus.

Montag, 21. März 2016

Auftakt


Es gibt Länder, wo was los ist
Es gibt Länder, wo richtig was los ist und es gibt
Brandenburg Brandenburg

[…]
In Berlin kann man so viel erleben, in Brandenburg
Soll es wieder Wölfe geben, Brandenburg

Rainald Grebe

Eine satirische Hymne, in der das Wort Brandenburg redundant vorkommt, muss etwas bedeuten. Die Versfragmente aus Rainald Grebes Lied Brandenburg drücken die Spannung aus, die in den beiden unterschiedlichen Weisen liegt, sein Leben zu verbringen. Da ist die Stadt Berlin mit ihrer verschlingenden Urbanität, umgeben von einem Bundesland, in dem nichts los sein soll. Der Gegensatz von Stadt und Land wird thematisiert. Die vielen Möglichkeiten von Arbeit, Begegnung, Konsum und Kultur locken die Brandenburger in die Stadt und verführen sie. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land frustrieren und fordern auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Das war schon immer so, und nun hat es Brandenburg getroffen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit in Spot sozialer Kontrolle. Jeder kennt jeden auf dem Land, manche kennen einige in der Stadt. Einer von drei Millionen zu sein, wird plötzlich erstrebenswert. Macht Stadtluft wirklich frei? Oder macht sie inzwischen schon krank - physisch und psychisch? Der Journalist Henning Sußebach geht den umgekehrten Weg. Er macht sich auf, das zu entdecken, wovon Rainald Grebe in seinem maskierten Liebeslied singt: das Land. Schon Martin Luther schrieb eine Parabel zum Thema: Von der wohlhabenden Stadtmaus und ihrer armen Verwandten, der Feldmaus, um nicht gleich von Stadtmensch oder Landmensch zu sprechen. Die Feldmaus entscheidet sich freiwillig für ihr bescheidenes Landleben, nachdem sie einer Einladung der Stadtmaus in ihr Revier gefolgt ist, und dort beinahe gestorben wäre. Und die Moral, die die Feldmaus ihrer reichen Verwandten entgegenhält: Ich bin frei, und meine Armut nehme ich dafür in Kauf.
Henning Sußebach stellt auf seiner Wanderung fest, und das ist das Besondere an seinem Bericht, dass sich Stadtmensch und Landmensch nicht mehr verstehen, nicht mehr solidarisch sind. Umwelten und Lebenswelten sind zu verschieden geworden. Kaum das der eine noch was vom anderen weiß. Empathisch? Als gebe es kein Leben außerhalb der Großstadt, spricht der Hamburger Journalist von der urbanen Herablassung des Städters. Auf seiner Wanderung durch Deutschland, von Nord nach Süd, kommt es ihm vor, als befände ich mich exakt auf einer Kluft, auf einer historischen Verwerfung, die zwischen Stadt und Land, zwischen Avantgarde und Abgehängten, zwischen Morgen und Gestern zu verlaufen schien, womöglich aber auch zwischen Arroganten und Ignorierten. Deutschland hat kein soziales Nord-Süd-Gefälle, sondern ein Stadt-Land-Gefälle. Rainald Grebe, und schon Martin Luther, erzählen von diesem modernen Stadt-Land-Dilemma, wenn sie es auch nicht unmittelbar benennen. Stadt und Land sind nicht reziprok, sie sind antipodisch. Das war schon immer so. In der Stadt vermutet man die Lebensqualität, auf dem Land die Zurückgebliebenheit. Dominiert von Großbetrieben mit Maschinen und Monokultur, automatisierter und chemisch gedopter Landwirtschaft sowie umweltzerstörender Massentierhaltung, was mittlerweile unser Trinkwasser bedroht. Daneben kulminieren Arbeitslosigkeit und Langeweile. Wer heute noch in den entleerten Dörfern und Regionen Brandenburgs lebt, das glaubt der Stadtmensch, hat es aus irgendeinem Grund nicht geschafft, von dort fortzukommen. Warum sollte jemand freiwillig in Brandenburg bleiben? Trotzdem gehe ich wieder hin, und, was erstaunlich klingt, viele bleiben gern. Die Schönheit der Landschaft und die historische Bedeutung Brandenburgs, die Theodor Fontane Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg in fünf Büchern beschrieb, haben die Zeiten überdauert. Wer durch Brandenburg wandert wird feststellen, dass Fontanes Texte nicht das einzige sind, was von Brandenburg übriggeblieben ist. Doch dazu braucht es eben diesen feinen Natur- und Landschaftssinn, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit, sich vom ganz Anderen des modernen Lebens berühren zu lassen, sich einzulassen, offen zu sein, zu riskieren, dass sich das Band, das uns mit dem Alltag verbindet, für einen Moment lockert. Reisenden in der Mark gibt Fontane ein Sprichwort, das von manchen Frauen handelt, mit auf dem Weg, und das der Landschaft noch immer entspricht: Auch die häßlichste hat noch immer sieben Schönheiten.