Mittwoch, 30. März 2016

Ein Regentag im Luch


Ich schaue aus dem Fenster nach draußen in den beginnenden Tag und sehe nichts als eine bedrückende Grauheit, die sich dicht und schwer vor Nässe über Flatow ausdehnt. Augenblicklich bin ich bedient von dem Gedanken, heute aufzustehen und weiterzugehen. Weiter zu wollen, kommt mir gar nicht in den Sinn. Die Straße glänzt nass unter den Straßenlaternen, die noch nicht ausgeschaltet sind. Die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos reflektieren in großen Wasserlachen, in denen der fallende Regen konzentrische Kreise zeichnet wie Steine, die ausgelassene Kinder in einen Tümpel werfen. Nur die Molche und Frösche lassen auf sich warten, die in meiner Kindheit in den vielen verschwundenen Teichen lebten.
Im strömenden Regen gehe ich hinüber in den Dorfladen, an dem ich gestern Nachmittag vorbeikam. Er gehört zu einem Gehöft, dessen großer Innenhof von Gebäuden wie eine Festung umgeben ist. Durch die Toreinfahrt sehe ich in der hintersten Ecke des Hofs ein beleuchtetes Fenster, hinter dem ich den Laden vermute. Kein Mensch ist zu sehen. Das Angebot an Lebensmitteln ist überraschend einfach und unvollständig: frische Brötchen, Kuchen, Käse, Wurst und einige Konserven; Getränke in Mehrwegflaschen. Die Kühltheke und die Regale sind nicht einmal halb gefüllt. Nach Obst halte ich vergeblich Ausschau, das produzieren und verarbeiten die Dörfer selbst. Dafür gibt es hier keine Nachfrage. Im Berliner Überfluss habe ich vergessen, dass der allzeit bereite Überfluss an Waren nicht selbstverständlich ist.
Ein alter Mann kommt vornübergebeugt und mit schleppendem Schritt aus einem Hinterzimmer an die Ladentheke. Humpelnd, gebrechlich, bedient er mich mit langsamen Bewegungen. Slow Motion! Ich kaufe mir zum Frühstück zwei der Brötchen, und da es außer Wurst kaum Anderes gibt, dass ich essen will, kann ich zwei Schmelzkäseecken einzeln aus der Schachtel bekommen. Ein Stück Kuchen, etwas das wie eine Nussecke aussieht, für später am Tag, lasse ich mir noch in die Tüte packen, in der meine Einkäufe nun durcheinander liegen. Proviant, der bis zum Abend reichen soll. Wie denn die Wettervorhersage lautet, frage ich den Alten. Der brummt etwas Unverständliches vor sich hin, blickt vielsagend durch die Scheibe des Ladens nach draußen, und winkt lächelnd ab.

Ein einsames Frühstück im Gemeindehaus, an dem viel zu großen Tisch in der Winterkirche. Ich packe meine Sachen in den Rucksack und verlasse in einer Regenpause hoffnungsvoll mein Domizil. Den Hausschlüssel werfe ich wie verabredet in den Briefkasten am Tor, denn die Herbergsmutter ist längst unterwegs in die Stadt, wo sie arbeitet. Es nieselt leicht und ich hoffe auf einen milden Sprühregen im Frühling.
In meiner Vorfreude gehe ich beschwingter durch den Ort und auf das Kopfsteinpflaster der Apfelallee, die nach Linum ins benachbarte Storchendorf führt. Ob die Störche bei diesem Wetter schon zurück sind? Es beginnt stärker zu regnen, erst sanft, dann zunehmend heftiger, schließlich gießt es wieder in Strömen. Ich ziehe die Gamaschen über, die heute nicht mehr so passen wollen wie noch vor Tagen im Laden. Eigenartigerweise bedecken sie nur noch den halben Schuh, der außerdem nicht wasserdicht ist. Mit dem Rucksack schlüpfe ich unter meinen Poncho, im strömenden Regen schwierig, da er sich immer wieder am Rucksack verhakt. Noch bevor ich den Poncho richtig übergezogen habe, sind Jacke und Hose bereits feucht. Der alte Poncho, der mich vor Jahren auf dem Rad oder im Kajak immer trocken gehalten hat, ist anscheinend in die Tage gekommen. Vermeintlich gut geschützt, stemme mich gegen den Wind, der außerhalb der Ortschaft böig auffrischt. Der durchweichte, lehmige Feldweg schmatzt gierig bei jedem Schritt. Auf der Grasnarbe zu gehen, die den Weg in zwei schmale Streifen teilt, hält meine Füße auch nicht trockener. Der Der immer dichter fallende Regen und die zugezogene Kapuze behindern meine Sicht.
Das Kopfsteinpflaster löst ein sandiger Feldweg ab, in dessen Boden der Regen schnell versickert, sodass ich nicht Pfützen laufen muss. Der Wind treibt den Regen von vorne auf mich zu. Unter vereinzelt stehenden Bäumen suche ich vorübergehend Schutz und ordne meine trotz Poncho nasser werdende Kleidung. In der Ferne tauchen Bäume auf, die nach Wald aussehen, und ich hoffe, geschützter weiter gehen zu können. Rechts von mir dehnen sich endlos Spargelfelder aus, unter parallelen Plastiktunneln versteckt, die bis an den Horizont reichen.
Mit langen Schritten eile ich durch den dichten Regen auf die ersten Bäume zu, die dann doch nur einen schmalen Übergang in die nächsten Feldern bilden. Der inzwischen aufgeweichte Boden ist von wassergefüllten Schlaglöchern übersät, über die ich in einem Parcours durch das Wäldchen eile. Inzwischen klebt mein Poncho auf der Kleidung, hält dem vielen Wasser nicht mehr stand. Allmählich spüre ich den heftig auf mich prasselnden Regen bis auf die Haut. Nässe dringt durch alle Schichten Kleidung hindurch. Ich friere, gehe immer schneller und kann dem Regen doch nicht entkommen. Der überwindet meine Daunenjacke, meinen Pullover und mein T-Shirt, läuft auf meiner Haut hinunter in die Hose. Meine Hosenbeine sind schwer vom Wasser, mit dem sie sich vollgesogen haben, und klatschen auf meine Waden. Auch in den Schuhen fühlt es sich jetzt feuchter an. Noch nie bin ich freiwillig im Regen herumgelaufen, geschweige denn, in einer offenen Landschaft. Was ich bisher immer vermieden habe, holt mich nun gewaltig ein. Doch wo soll ich hin, wenn um mich herum weder Baum noch Dach zu sehen sind. Weitergehen, was bleibt schon anderes übrig. Ein paar hundert Meter weiter endet der Feldweg auf einer leicht ansteigenden Landstraße. Dünne Rinnsale fließen abwärts den Berg hinunter mir entgegen. Auf dem Weg nach Linum platsche ich durch Wasserlachen, trotte nass und tropfend über den nassen Asphalt, während der Verkehr erbarmungslos an mir vorbei spritzt. Die Fahrer in den Autos denken: Wohl ein Pilger, der braucht das so! Mühe, Schmerz und Buße. Doch das Mittelalter liegt weit zurück, und sie denken viel pragmatischer: Was geht der mich an, der macht mir nur meine Polster nass!
Nach einer Stunde sehe ich die ersten Häuser und ein leeres Storchennest am Ortseingang von Linum. Und einen Bus nach Fehrbellin, der mir entgegenkommt. Unerwartet denke ich an meinen Schutzengel. Auch ein tief in mir verwurzeltes Gefühl. Über meinem Kinderbett, ich war noch nicht fünf Jahre alt, hing ein Bild, auf dem ein Engel ein Kind schützend über eine schmale Brücke begleitet, die über einen tiefen Abgrund führt. Seltsam, dass ich gerade jetzt an dieses Bild denke. Ein Engel mit einem Schirm wäre jetzt nicht schlecht. Klatschnass wie ich bin, wünsche ich mir den Schutz und die Geborgenheit meines reservierten Zimmers im Hotel Alter Bahnhof in Fehrbellin. Ohne lange zu zögern, werfe ich alle Pilgerei über Bord und beende für heute meine Fußreise an dieser Bushaltestelle. Der Fahrer erbarmt sich meiner und lässt mich eine halbe Stunde vor Abfahrt in den leeren Bus. Tropfend steige ich ein, wechsele meine nasse Kleidung, die ich über den Sitzen und Haltestangen aufhänge. Der Fahrer blickt taktvoll weg, obwohl er mich im Rückspiegel sehen kann, sagt nichts dazu, nimmt sein Handy und telefoniert. Später hat er vielleicht eine Geschichte zu erzählen: Was ich heute erlebt habe . . . ! Der Bus ist gut beheizt, und während ich auf die Abfahrt warte, wird mir wärmer. Aus meiner Kleidung fallen die letzten Regentropfen auf den PVC-Belag. Ich fühle mich wohl in der feuchten Wärme, die mich einhüllt, esse die dubiose Nussecke aus dem Dorfladen und trinke zufrieden den letzten Gewürztee aus der Flasche.

Der Bus fährt den kurzen Weg nach Fehrbellin in weniger als zwanzig Minuten, über Hakenberg und Tarmow, dort, wo der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm 1675 die Schlacht von Fehrbellin schlug. Vor dieser Kulisse, in Hakenberg, spielt auch Heinrich von Kleists klassisches Drama über Gehorsam und Pflicht, Prinz Friedrich von Homburg. Die Preußen siegten in dieser Schlacht über die schwedische Übermacht und sicherten ihre Machtstellung. In der Legende vom Hakenberger Bauernkind erinnert auch Fontane an dieses Ereignis, und so hat sich das kleine, unscheinbare Dorf in die brandenburgische Geschichte eingeschrieben. Der Kurfürst nahm sich eines verlassenen Kindes an, das ihm in der Schlacht das Leben gerettet haben soll. Dankbar überlebt zu haben, soll er das Kind für eine Manifestation des hohenzollernschen Schutzgeists gehalten haben. So jedenfalls überliefert Fontane die Legende.
Der Turm der gotischen Kirche von Hakenberg aus dem 15. Jahrhundert beherbergt eine kleine Ausstellung über diese historisch bedeutende Schlacht, deren Dokumentation ich nicht sehen werde. Vielleicht beim nächsten Mal? Obwohl ich es genieße, trocken im Bus zu sitzen, bedauere ich es, an Hakenberg vorbeizufahren. Auch die im preußischen Klassizismus erbaute Kirche in Tarmow, einzigartig mit ihrem Campanile, wäre eines Blickes wert gewesen. Ein anderes Mal, das ist mir bewusst, wird es nicht geben. Aber stundenlang weiter durch den Regen zu gehen, war heute keine Alternative.
Viel zu früh komme ich im alten Bahnhof an. Mein gestern vereinbartes Quartier für die kommende Nacht. Verblüfft stehe ich vor einem völlig sanierten, ein auf modern getrimmtes Gebäude. Der ehemalige Bahnhof ist so von moderner Architektur überladen, dass ich ihn zuerst gar nicht als Pilgerherberge wahrnehme. Bei alt hatte ich an das Gebäude, nicht an seine Funktion gedacht. Die historischen Gemäuer liegen auf der Rückseite. Der perfekt gepflasterte, beeindruckende Vorplatz mit Biergarten, Spielplatz und einem einsamen Gleiskörper gibt dem Ensemble viel Raum, der die Architektur betont. In der hinteren Ecke des Komplexes, am Ende der Gleise, steht ein dunkelgrüner, historischer Eisenbahnwaggon. Im Regen stehend wirkt der Hauch von Romantik auf mich kitschig. Mir gefällt diese Integration von alt in neu nicht. Zu unausgewogen sind die Relationen gelungen. Dann doch besser gleich ein neues, modernes Gebäude.
Zu meiner Freude bieten die Hausmauern verschiedene Tafeln mit wichtigen Hinweisen zur Nutzung des Bahnhofs, unter anderem auch die Telefonnummer meiner heutigen Gastgeber. Allerdings bekomme ich am ehemaligen Bahnhof von Fehrbellin keine Verbindung ins Mobilfunknetz.
Bis ich ins Haus gelassen werde, laufe ich durch die Straßen der Kleinstadt und lasse mich zum zweiten Mal nass regnen. Fehrbellin präsentiert sich brandenburgisch kleinstädtisch mit morbidem DDR-Charme an jeder Ecke. Später gehe ich im Regen auf dem Vorplatz des Bahnhofs hin und her, suche das Mobilfunknetz, und finde schließlich auf der Zugangsstraße einen winzigen Eingang, während neben mir ein Mann im Regen seinen Reisebus putzt. Sie komme sofort vorbei, höre ich endlich eine freundliche Stimme aus dem Gerät. Schnell führt sie mich dann ins vorgeheizte Zimmer, erklärt mir das eine und das andere und ist schon wieder fort. Allein sitze ich auf dem Bett im alten Bahnhof, der heute am Dienstag geschlossen ist. Auch das Restaurant. Keine Köche, keine Servicekräfte und auch keine anderen Gäste. Es ist still und nur ans Fenster prasselt weiter der Regen, der inzwischen wieder zugenommen hat. Aus der Ferne grollt drohend Donner herüber.
Ich bin unruhig, vermisse den geplanten Tag. Frage mich zum wiederholten Male, ob ich nicht besser weitergegangen wäre. Aber der Gedanke ist mir dann jedes Mal unangenehm. Ich kann mich nicht dazu entschließen, mich durchnässt im Regen zu quälen. Meine Fußreise, die mir immer noch wie ein unvernünftiges und verrücktes Unternehmen vorkommt, habe ich mir genussvoll gewünscht. Anhaltenden Regen gab es in meiner Vorstellung nicht. Untrainiert wie ich bin, reicht mir die Anstrengung des Gehens und Tragens. Eine Wanderung durch den Regen hätte mir den ganzen Tag verdorben, der aber auch so nicht besonders gelungen ist. Allein in einem Klischee von Hotelzimmer zu sitzen bereitet mir auch keine Freude. Meine Unruhe macht mir das nur allzu deutlich. In der nächsten Regenpause bin ich wieder draußen, um Essen für den Abend und den nächsten Morgen einzukaufen. Für einen kurzen Moment zeigt mir Fehrbellin ein freundlicheres Gesicht. Zum dritten Mal an diesem Tag erreiche ich nass, aber verproviantiert den alten Bahnhof und mein warmes Zimmer. Am späten Nachmittag hört es noch einmal auf zu regnen, und ich bin sofort wieder draußen. Ich will ins Zentrum, wenigstens den Ort sehen, und zur Kirche meinen Pilgerpass stempeln. Denn darum geht es auch beim Pilgern: der Stempel sichert das Recht in einer der Herbergen zu übernachten. Schon zehn Minuten später laufe ich wieder durch den Regen und stehe vor einer verschlossenen Kirchentür.

Eine kurze Stadtgeschichte

Eine Info-Tafel an der Bushaltestelle, wo ich mich unterstelle bis der Regen nachlässt, nennt Fehrbellin die Stadt am Rhin. Der Ort Bellin, so belehrt mich die Tafel, wird 1217 als Burgwardei Belin, Burg der brandenburgischen Markgrafen, erstmals erwähnt, als der Brandenburger Bischof Siegfried II. bei seiner Amtsübernahme dem Brandenburger Domkapitel seine Archidiakonatsrechte bestätigte. 1294 erhielt der Ort die Stadtrechte. Von einem Damm über das Rhinluch im gleichen Jahr ist die Rede. Eine Fähre über das Rhinluch und ein Knüppeldamm sind seit 1402 bezeugt. Dieser Transportmöglichkeit verdankt der Ort auch seinen heutigen Namen: Fehrbellin. 1616 wurde eine Brücke über den Rhin errichtet, der vorher nur mit dieser Fähre zu überqueren war. In der historisch bedeutenden Schlacht bei Fehrbellin, am 16. Juni 1675, besiegte der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm I. die schwedischen Truppen. Im frühen 18. Jahrhundert wurde das Havelländische Luch, gegen Ende des Jahrhunderts das Rhinluch trockengelegt. Seit 1840 entwickelte sich der Torfabbau, der der Brennstoffversorgung Berlins diente, zum wichtigen Wirtschaftszweig.
Trotz seiner bewegten mittelalterlichen Geschichte erinnert das heutige Fehrbellin nicht mehr an diese Zeit. Das wahrscheinlich letzte Zeugnis der Pilgerzeit ist die 1385 erwähnte Gertraudenkapelle, die aber schon 1751 einstürzte und nicht mehr existiert.

Ich umrunde die Kirche, aber keine der Türen ist offen. Ich frage mich durch, und finde die Frau, die der Pilgerführer der Oefeleins die Bewahrerin des Kirchenschlüssels nennt. Am Tor auf das Grundstück sehe ich ein vertrautes Schild. Auch mein Vater hatte ein solches neben der Haustüre aufgehängt: Deutscher Bienenhonig zu verkaufen, zertifiziert vom Deutschen Imkerbund. Ich treffe die freundliche und zugewandte Frau zu Hause an, wo wir im Windfang vor ihrer Haustür stehen und gegenseitig Höflichkeiten austauschen. Ihr betagter, kräftig roter Kater Twinkle schläft neben der Tür in einem Korb, der mit Decken gepolstert ist. Ich muss an Rubens Kater Ramses denken, der vor einem Jahr gestorben ist. Die alte Socke ist jetzt im Katzenhimmel, wohin sich auch die Promenadenmischung Luther und der Manxkater Blackjack in Matt Ruffs Fool On The Hill auf den Weg machen. Als ihr Freund Moses überfahren wird, verspürt Luther das Bedürfnis, ihn aufzuspüren, da er den Geruch seiner Seele an der Unfallstelle noch immer riechen kann, als der Körper längst abtransportiert ist: Wenn ich Moses Körper wittern kann, fragt er sich, dann könnte ich ja vielleicht auch seine Seele aufspüren. Und dann dachte ich: Und was, wenn ich gleich den Himmel selbst aufspüren könnte? Und als Blackjack ihn fragt, wonach dieses Dings da, der Himmel eigentlich gerochen hat, antwortet ihm Luther so, als ob dies keiner Frage bedürfe: Nach Regen und Hügeln. Passt zum Tag, denke ich, bis auf die Hügel, von denen es in Brandenburg nicht viele gibt; der höchste ist gerade einmal 120 Meter hoch. Die beiden Stromer auf ihrer Suche nach dem Himmel zu begleiten, ist die absurdeste literarische Pilgerfahrt, die man sich verstellen kann.
Die Pfarrei ist momentan vakant, und die Kirche deshalb verschlossen. "Wir haben schlechte Erfahrungen mit randalierenden Jugendlichen gemacht," fährt sie fort. "Der neue Pfarrer kommt erst im Sommer mir seiner Frau aus Lübbenau." Schließlich habe ich genug Vertrauen aufgebaut und bekomme den Schlüssel von ihr, denn die freundliche Frau will nicht mit mir hinaus in den Regen.
Die Kirche von Fehrbellin steht auf einem kleinen Rasenstück, das für den mächtig aufragenden Bau wie eine Fußmatte wirkt. Architektonisch beeindruckt mich die Fehrbelliner Kirche nicht, und auch der Ort macht unter der langweiligen Atmosphäre eines Regentages einen unscheinbaren, öden Eindruck. Die herbstlaubbraun gegliederten Motive der Kacheln hinter dem Altar ziehen meinen Blick in Waldestiefen. Für einen Moment versinke ich in dieser Stimmung, die mich entspannt und ruhig werden lässt. Allein dieser Blick wiegt alles auf, was mir an dieser Kirche nicht gefällt.

Die Fehrbelliner Stadtkirche

Doch die Stadtkirche von Fehrbellin ist ein erstaunliches Bauwerk mitten in der Provinz, in der sie heute steht, ein kirchengeschichtliches Relikt, das in dem verschlafenen Ort, an dem ein Hauch der untergegangenen DDR noch in der Luft hängt. Sie entstand in den Jahren zwischen 1865 und 1866 nach Plänen von Friedrich August Stüler und wurde im März des gleichen Jahres eingeweiht. Stüler war ein preußischer Baumeister des 19. Jahrhunderts, einer der maßgebenden Berliner Architekten seiner Zeit. Sein bedeutendster Bau ist das Neue Museum in Berlin. Auch der Kuppelbau auf dem Triumphbogen des Hauptportals des Berliner Schlosses mit der Schlosskapelle ist Stülers Werk. 1870 erhielt die Fehrbelliner Kirche ihre sieben Meter hohe und 5,20 Meter breite Orgel, die von der deutschen Orgelbaufirma Heerwagen gefertigt wurde, in deren Werkstatt zahlreiche Orgelneubauten in den heutigen Bundesländern Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg entstanden. Die dreischiffige Stadtkirche aus gelbem Backstein in neugotischem Stil besitzt einem 41 Meter hohen Turm. Die Kirche steht auf dem Platz der spätmittelalterlichen, um 1700 erweiterten Kirche des Dorfes Feldberg.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Kirche durch den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt zu klein, sodass 1858 der Entwurf von Stüler für den Neubau vorlag. Während verschiedener Renovierungen erhielt die Kirche 1925 drei neue Gussstahlglocken, 1967 einen neuen Altar sowie eine neue Kanzel. 1998 wurde die Innenraumfassung der Bauzeit wieder hergestellt. Die Kirche mit ihrer monumentalen Gestaltung, eine der bedeutendsten Kirchenbauten der märkischen Provinz, gefällt mir trotzdem nicht, auch wenn die von Stüler ausgeführte, imposante Größe der Kirche an die Bedeutung Fehrbellins für die brandenburgisch-preußische Geschichte erinnert.

Gegenüber der Kirche hängt das Ölgemälde einer exotischen, halbnackten Frau im Fenster eines grauen Hauses. Bei Woolworth oder im Kaufhof in der Stadt meiner Kindheit wurden diese Bilder von schwarzhaarigen Frauen mit vollen Brüsten angeboten, die ich in den Wohnzimmern der Familien meiner Freunde und Nachbarn über dem Sofa hängend bewundern konnte. Das Klischee des Spießbürgers von einer erotisch-verführerischen Südländerin.
Später frage ich Frau des Imkers, wer der Mann auf dem Relief des Grabsteins neben dem Taufbecken ist. Das wisse sie nicht, antwortet sie mir, und ich staune, dass sie selbst noch nie danach gefragt hat. Sie muss ihn doch seit Jahren immer wieder gesehen haben. Aber sie kann mir sagen, wo ich heute vielleicht noch einen Poncho kaufen kann, denn morgen soll es genauso ergiebig regnen wie heute.
Auf dem Rückweg bricht plötzlich die Sonne durch einen Riss in den Wolken. Der nasse Asphalt glänzt und glitzert in der auf ihn treffenden Lichtflut. Am Straßenrand warten die verfallenden Gebäude im Schatten ihrer Geschichte auf ihre Wiedergeburt. Filialen der modernen Discounter-Hallen Westdeutschlands haben sich überall im Osten breit gemacht, wo sie die ehemaligen Konsumläden verdrängt haben. Am Ortsrand herrschen sie konkurrenzlos über die Stadt und ihr Umland. Freistehend protzen sie in der Abendsonne, umgeben von großzügigen Parkplätzen, während in den kahlen Zweigen weniger Bäume Nebelkrähen krächzend ihr Nachtquartier beziehen. Einen Poncho bekomme ich keinem der Märkte.
Abends lasse ich mir die Bürgerlichkeit meines Hotelzimmern gefallen, faulenze auf dem Bett und sehe mir nach langem wieder einmal an, was das TV zu bieten hat. Das Fußballspiel, Deutschland und Italien, preist der Kommentator als historisches Ereignis an. 4:1! Deutschland hat Italien zuletzt 1995 geschlagen. Was habe ich 1995 gemacht, geht mir durch den Kopf. Es war ein gutes Jahr in meinem Leben: ein Wendejahr, fällt mir auf, wie mir jetzt ein weiteres bevorsteht. Eine Dokumentation über die Samen im Norden von Schweden und Norwegen folgt. Die Windparks der Energiewende zerstören die Existenzgrundlage ihrer nomadischen Lebensweise. Auch über diese viel beschworene Wende lässt sich unterschiedlich denken. Es gibt eine steigende Suizidrate unter den jungen Männern der Samen, die ihre Identität bereits verloren haben.

Das Wilsnacklaufen

Die Ausstrahlungskraft des Heiligen Blutes reichte weit: Nach Wilsnack zogen Menschen aus Skandinavien, England, den Niederlanden, Ungarn, Böhmen und Polen. Sie kamen aus Dank für empfangene Hilfe oder in der Hoffnung auf künftige Heilung. Das stärkste Motiv der mittelalterlichen Pilger war ihr Wunsch, durch die Pilgerfahrt etwas für das Schicksal der eigenen Seele nach dem Tode zu bewirken. Aus spätmittelalterlichen Testamenten sind Fälle aus Norddeutschland bekannt, in denen ein Verstorbener einen Geldbetrag einem Berufspilger zusprach, der stellvertretend für ihn nach Wilsnack pilgern sollte. Städtische Gerichte ahndeten Ordnungswidrigkeiten und Straftaten mit der Anordnung einer Pilgerfahrt. Strafpilgerschaften nach Wilsnack wurden besonders in den Niederlanden verhängt.
Wirklich rational überzeugende Erklärungen für das Wilsnacklaufen, wie die Massenwallfahrten in der Bevölkerung genannt wurden, gibt es nicht. Die Motive sind so unterschiedlich wie die Persönlichkeit und das Schicksal eines Menschen, der eine Pilgerfahrt antritt. Gesellschaftliche Ereignisse und ideologische Überzeugungen wie individuelle oder durch kirchliche Dogmen geschürte Ängste von Schuld und Sühne, soziale Unsicherheiten, Kriege, Armut und Missernten oder Seuchen liefern nachvollziehbare Gründe, die sich in einer sakral aufgeladenen Pilgerfahrt beruhigen und bewältigen lassen, indem die Rückbeziehung auf das Magische und Heilige wieder persönliche Sicherheiten schafft. Solche Phänomene, dass Kinder und Jugendliche 1475 in Scharen nach Wilsnack gepilgert sind, lassen sich am überzeugendsten mit magischem Wunderglauben und Begeisterungsfähigkeit, mit affektivem Betroffensein durch göttliche Atmosphären im Umfeld religiöser Rituale, durch Visionen und subjektive Imaginationen erklären, die nur im weitesten Sinne mit der kanonischen Lehre der katholischen Kirche in Verbindung stehen. Die Ergriffenheit durch Atmosphären, die an bestimmten Orten, in besonderen Begegnungen und der eigenen emotionalen Befindlichkeit quasi in der Luft liegen, ist eine basale psychische Fähigkeit der Conditio humana. Mit der protestantischen Reformation kam 1516 das letzte Jahr, für das das Wilsnacklaufen dokumentiert ist.
Der Mehrheit der gegenwärtigen Menschen ist diese Befindlichkeit der Umwelt gegenüber weder gegeben noch nachvollziehbar. Rationalisierung und Intellektualisierung haben die Welt entzaubert. Die Mythen, Legenden und überlieferten Erzählungen früherer Kulturen, die eine magisch begründete Weltsicht anboten, die assoziativ an eine eher emotionale Intelligenz anknüpften, wurden durch mentale und rationale, naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle ersetzt, die das Atmosphärische des Heiligen und Göttlichen, da  nicht erklärbar als metaphysisch ausschließen. Mit der wissenschaftlichen Revolution ist dem Menschen eine wichtige Bedeutungsdimension seiner Umgebung verloren gegangen. Wo seine Umwelt einst magisch und mythisch konnotiert war, ist er heute auf dürre, empirische Fakten zurückgeworfen, die sein spirituelles Bedürfnis frustrieren. Durch diese zweite Vertreibung aus dem Paradies wurde der Mensch zur Krone der Schöpfung. Nur folgerichtig leitete die wissenschaftliche, industrielle und technische Revolution die Zerstörung und Ausbeutung der Natur ein. Das neue Wissen und die vollkommeneren Mittel der Existenzbewältigung wurden durch die Habgier und die Unbesonnenheit der Menschheit zu einer tödlichen Waffe. Noch immer ist der Mensch nicht bereit, einen ökologisch sanften Fußabdruck zu hinterlassen.

Das Dritte Alter. Es ist mir bewusst geworden, dass sich mein Leben wahrscheinlich in drei Zyklen vollenden wird. Ich stehe am Beginn des wahrscheinlich letzten Kreises. Was wird er mir bringen: ein weiteres Leben? Shivas Tanz beginnt von Neuem. Schöpfung folgt auf Zerstörung, auf Loslassen des Vergangenen folgt neue Gegenwart. Ein ewiger Kreislauf, an den ich mich erst wieder gewöhnen muss. Was ist mir wichtig? Was wirklich zählt, ist der Augenblick, das Hier und Jetzt. Verstanden habe ich das schon vor langem, Neues zu leben, fällt viel schwerer. Immer wieder entstehen neue Wünsche und Begierden, neue Freude und neues Leid, die Verlockung zu bleiben, Festzuhalten und an den Dingen und Begegnungen in der Welt zu haften, erscheint einfacher, als Verzicht und Loslassen. Doch wer kennt das nicht? Den Wenigsten gelingt der Übergang in ein viertes Alter. Der nächste Übergang führt durch den Tod. Ein anderer Pilgerweg. Die größte Herausforderung des Dritten Alters, des letzten Aktivstands meines Lebens, kommt mir vor wie ein Ausblick auf meinen Tod. Aber diese Herausforderung bietet mir die Chance mich weiter im Loslassen zu üben. Doch wenn der Tod jetzt kommt, heißt meine Antwort: Heute nicht! Für die drei Lebensalter weiß Lu Xun ein Motto, das ich morgen als Leitmotiv nehmen werde: Vielleicht dachte ich mir, ist die Hoffnung weder Wirklichkeit noch Scheinbild. Vielleicht ist sie wie die Straßen im Antlitz der Erde: sie waren nicht da gewesen; die Füße der Wanderer hatten sie geschaffen. [1]

Literatur
[1] Zitiert als Leitmotiv in Rob Gifford, Chinas großes Herz. Von Shanghai bis ins tibetische Hochland auf der Route 312, München, 2008.

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