Ich bin wieder in Hennigsdorf. Es ist neun Uhr morgens. Ostermontag. Noch ein Feiertag, an dem kein Bus nach Bötzow fährt. Ich habe mir vorgenommen den gleichen Weg wie gestern nicht noch einmal zu gehen, und mit dem Bus nach Bötzow zu fahren. Es verkehrt nur ein Bus bis Marwitz und von dort weiter nach Oranienburg, Orte, die nicht auf meinem Weg liegen. "Fahren Sie doch bis Marwitz mit", schlägt mir ein gutgelaunter Busfahrer vor. "Sie können dann hinüber nach Bötzow laufen." Ich steige ein, in Marwitz aus, und suche nach den Pilgerweg. Aber den Weg nach Bötzow finde ich nicht.
Über Marwitz wölbt sich ein blauer Himmel, von dem warm die Sonne scheint. Heute bin ich zu warm angezogen und gerate schnell ins Schwitzen. Mein Rucksack drückt schwer auf Schultern und Hüften. Noch während ich orientierungslos die Straße, auf der mich der Bus abgesetzt hat, entlanglaufe, ermüden meine Beinmuskeln. Sie empören sich unter der ungewohnten Last, und sind nicht so enthusiastisch wie ich mich fühle. So früh am Morgen ist niemand unterwegs, den ich nach dem Weg fragen kann. Ich suche mir auf der Karte einen Weg aus dem Ort hinaus, der mir vernünftig erscheint, irre mich aber in der Richtung. Nach einigen hundert Metern kehre ich um, gehe zurück zur Bushaltestelle. In der Ferne kommt mir jemand entgegen, den ich fragen will.
Was nun beginnt, ist mein persönliches Marwitz-Dilemma. Ich gehe dem einsamen Spaziergänger entgegen, frage nach dem Weg nach Bötzow und dem Pilgerweg. Er weist in die Richtung, aus der ich gerade komme, murmelt Unverständliches, geht aber, ohne anzuhalten zügig weiter. Ich gehe neben ihm her, versuche ein Gespräch, dass aber nicht zustande kommt. Wir reden aneinander vorbei, ohne Blickkontakt. Ich habe nicht den Eindruck, dass er mich versteht. Auf einem großen Grundstück an der Ortsgrenze, in der Nachbarschaft eines Netto-Marktes, sollen Unterkünfte für 146 Geflüchtete entstehen. Davon erzählt mir erbost der merkwürdige Mann, emotionslos wie ein Nachrichtensprecher, ohne sich persönlich an mich zu wenden. Ich versuche mit seinem schnellen Schritt mitzuhalten. Ohne Gruß, ohne mich noch einmal anzusehen, biegt er plötzlich auf den Parkplatz des Discounters ab und verschwindet zwischen den Häusern. Inzwischen bezweifle ich, dass dieser seltsame Kauz ortskundig ist.
Orientierungslos gehe ich weiter geradeaus, verlasse Marwitz, und bin nach einem Kilometer in Velten, wohin auch der Bus verschwunden ist. Doch auf meiner Karte liegt Velten in der falschen Richtung. Der Bus muss in Marwitz die Richtung gewechselt haben, von der Hauptstraße abgefahren sein, und im Ort Nebenstraßen benutzt haben. Ich frage zwei junge Türkinnen, die mit der Übersetzung der Karte in die Wirklichkeit völlig überfordert sind. "Karten," klagen sie, "konnten wir noch nie lesen". Die richtige Richtung wissen sie aber auch nicht. Also gehe ich wieder zurück nach Marwitz, und versuche es auf einer anderen Straße, frage einen Großvater mit Kind. Inzwischen läuft mir der Schweiß zwischen den Schulterblättern den Rücken hinab. Aber auch der Großvater weiß nicht weiter. "Ich bin noch nie von hier fort gewesen", fügt er entschuldigend hinzu. In einer Einfahrt lädt ein Ehepaar ihren Wagen aus. Die beiden können wenigstens die Karte lesen und wissen die ungefähre Richtung. Nun bin ich endlich auf der richtigen Spur. Entgegengesetzt zur Route des Busses durchquere ich Marwitz bis ans andere Ende des Orts. Ein elegant gekleideter Jogger mit gepflegtem Bart kennt sich aus, weiß ganz genau in welche Richtung ich gehen muss. Laufend ist er weiter herumgekommen als seine Mitmenschen. Er erklärt mir die richtige Abzweigung, und schickt mich auf einen Feldweg, der hinüber zur Alten Poststraße führt. "Nur fünf Kilometer entfernt"; meint er. "Nicht mehr sehr weit." Drei Kilometer bin ich inzwischen durch Marwitz geirrt. Für den Anfang nicht schlecht, denke ich noch und biege erleichtert in den Feldweg ein, wo mich sofort der böige Wind von gestern empfängt. Ich scheine wirklich auf dem richtigen Weg zu sein. In der Ferne mündet der Feldweg in einen Wald, dem ich sehnsüchtig entgegeneile, hinein in den Windschatten, der mich anzieht wie das Licht die Motte. Auf der Grenze von Feld und Wald steht eine Schutzhütte. Ich raste, ziehe Schuhe und Strümpfe aus, und trockne im kalten Wind Füße und Hemd. Ich esse etwas Obst, Apfel und Banane, und beobachte zwei Spaziergänger, die sich mit ins Gesicht gezogener Kapuze gebeugt gegen den Wind langsam zur Hütte vorkämpfen. Sie suchen Schutz vor dem unangenehm blasenden Wind, sind aber leider nicht gesprächig. So sitzen wir schweigend im Wind, bis die beiden plötzlich aufspringen, die Kapuzen wieder über den Kopf ziehen und grußlos verschwinden. Ob auf dem Pilgerweg die Menschen offener sind? Richtig vorstellen kann ich mir das nicht, ist der Fremde doch immer Anlass zu Skepsis, Misstrauen und Angst. Mit meinem Apfel in der Hand bleibe ich allein zurück und entschließe mich, von nun an das erste Wort zu sprechen.
Inzwischen sind meine Füße trocken, Hunger und Durst gestillt. Ich schultere meinen Rucksack und folge dem Weg in den Wald hinein, der mich nach Flatow bringt. Windgeschützter zwischen den laublosen Bäumen drängt sich die Sonne durch die am Himmel treibenden Wolken. Ich gehe auf dem Waldweg, den auch die Fahrzeuge der Waldarbeiter nutzen, durch die Stafelder Heide westwärts. Jetzt stimmen auch Karte und Wirklichkeit überein. Ich weiß endlich, wo ich bin und wie es weitergeht.
Langsam belebt sich der Weg. Radler überholen mich und kommen mir entgegen. Ich erinnere mich an eigene Radwanderungen, zuletzt durch die Mark Brandenburg. Die Radfahrer rauschen schnell vorüber, den Blick geradeaus gerichtet, die meisten viel zu konzentriert aufs Fahren für Blickkontakt und Gruß. Ich fühle mich wohl auf meinen Füßen, genieße die Langsamkeit. Zitronenfalter und Kohlweißlinge gaukeln vor mir hin und her durch den Wald als wollten sie mir den Weg weisen. Niemand außer mir ist zu Fuß unterwegs. Für andere Wanderer bedeutet Mobilität ein Hilfsmittel zu benutzen. Ich drücke meine Stöcke in den Boden, die mich zügig voranbringen. Mir fällt der große Unterschied zwischen einer Fußreise und einer Radwanderung auf, wie anders sind Geschwindigkeit, Intensität und Erleben. Hier und jetzt zu Fuß zu gehen fühlt sich richtig an. Schon nach wenigen Stunden unterwegs spüre ich, wie anders sich der Weg und die Landschaft um mich herum entfalten. Ich habe das Gefühl, die Welt um mich herum schwingt in meinem Rhythmus. Alles nähert sich gemächlich, kommt ruhig auf mich zu und wirkt ein Weile nach. Langsames Annähern statt schon vorüber sein, bevor ich mich umgesehen habe. Bewusstes Wahrnehmen statt Konzentration auf die schnell raumgreifenden Reifen. Schon vorüber sein, bevor ich angekommen bin. Entschleunigtes Gehen fördert entschleunigtes Denken. Fast meditativ durchströmen mich Empfindungen, Gefühle und Gedanken, die ich ruhig betrachten kann, bevor ich sie ziehen lasse. Der Wald, durch den ich laufe, hüllt mich ein wie eine zweite Haut, das Gefühl, mein Leib dehnt sich in die Landschaft aus.
Das Waldgasthaus Zur Saubucht lockt mich an. Schon von weitem sehe ich die rote Fahne lustig im Wind wehen. Hierhin sind all die Radler unterwegs, von hierher kommen sie mir entgegen. Menschen auf ihrem Osterspaziergang, die kurz aus der Enge der Städte ausgebrochen sind um im Freien zu sein. Ein Gartenlokal, ein Ausflugslokal wie eines, zu dem ich als Kind mit meinen Eltern jeden Sonntag im Eschweiler Stadtwald wandern musste. Erinnerungen an meine Kindheit in den fünfziger Jahren kommen mir in den Sinn: Ich in Sonntagskleidern, ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, die kurze Stoffhose, meist grau, dazu die weißen Kniestrümpfe und glänzend geputzte, schwarze Halbschuhe. Die bis über die Ohren abrasierten Haare. Schon damals trug ich den hippen Undercut. Adrett gescheitelt, Faconschnitt, so nannte ihn meine Mutter, den ich so hasste. Frankophon-rheinisch. Ordentlich auf den Weg gebracht, obwohl ich viel lieber durch den Wald gestromert wäre. Das Jagdhaus Försterdanz, die Gaststätte Killewittchen im östlichen Eschweiler Stadtwald, mit einem weiten Blick hinab in die Stadt. Die Höhlen in der Nähe waren in der jüngeren Altsteinzeit um 8000 v.Chr. bewohnt. Der keltische Name cill bezeichnet eine Höhle oder Kuhle, etwas Verborgenes. Eine Sage berichtet von Zwergen, die in dem Gestein den Bergbau errichtet haben sollen, den der Volksmund Killewittchen nennt. Hilfreiche Gnome, Kobolde oder Klabauter, wie die Heinzelmännchen von Köln, die bis heute an den keltischen Bergbau und die spätere, römische Messingproduktion im Eschweiler Raum erinnern. Warum sie verschwunden sind, weiß niemand, aber als sie gingen, nahmen sie die Erze mit. Vielleicht speiste sich das Verbot meiner Mutter, alleine im Wald herumzustreifen, aus dieser Quelle, hatte nichts mit meiner guten Sonntagskleidung zu tun. An die Limonade, die ich nur hier beka,m und an den langweiligen Spielplatz mit seinen heruntergekommenen Spielgeräten, kann ich mich noch gut erinnern. Meine ersten Wanderungen unter der strengen Augen meiner Mutter.
Im Garten der Saubucht sind alle Tische besetzt. Ich finde einen anderen großen Baumstumpf mit unregelmäßiger Oberfläche, rundherum dicke Baumscheiben, auf denen ich gut sitze. Zwischen den Ästen einer großen Kiefer scheint mir die Sonne ins Gesicht. Ich trinke ein kaltes Radler und fühle mich erfrischt und gut aufgehoben.
Einen Kilometer später erreiche ich die Alte Poststraße. Nach einer letzten Unsicherheit über die Richtung, habe ich den Pilgerweg gefunden. Zurück nach Bötzow sind es sechs Kilometer. An einem Baum finde ich die drei gelben Punkte und den gelben Pfeil wieder, die mir nun den Weg weisen. Die Alte Poststraße verläuft nach Nordwesten, ein sandiger, von groben Reifenprofilen zerfurchter Weg. Nach einigen hundert Metern der nächste historische Postmeilenstein und seine moderne Variante die den Weg nach Hamburg in preußischen Meilen angibt: nach Berlin beträgt die Entfernung 4 (28 km), nach Hamburg 34 preußische Meilen (238 km).
Auf einsamen, fast verwunschenen Wegen gehe ich durch einen Wald, in dem sich alles nach dem Frühling sehnt. An den Büschen und Sträuchern das erste zarte Grün, das wie ein Hauch zwischen den Bäumen schimmert. Am Wegesrand wächst gelb der Huflattich in voller Blüte. Noch immer ist niemand anderes unterwegs. Ich bin allein mit mir und dem Wald und spüre, wie der Lärm, der Geruch und die Hektik der Stadt langsam von mir abfallen. Allein im Wald unterwegs, bleibt alles hinter mir zurück. Mit jedem weiteren Schritt werde ich ruhiger, gelassener, gehe langsamer vorwärts. Mein Alleinsein bekommt etwas Selbstverständliches. Es gibt nichts, was fehlt oder ungewöhnlich wäre. Ein Reh, so allein wie ich, steht plötzlich auf dem Weg, und schaut zu wie ich langsam näher komme. Dann ein Sprung, und die Ricke verschwindet zwischen den Bäumen. Als ich die Stelle erreiche, wo sie noch vor ein paar Sekunden stand, ist von dem Tier nichts mehr zu sehen. Von wo aus es wohl gerade zu mir herüberblickt, verstohlen hinter Buschwerk verborgen?
Überall um mich herum Vogelgezwitscher, unsichtbare Sänger, die ich nicht sehen kann, so sehr ich mich auch bemühe. Ich vermisse ein Fernglas, würde gerne den einen oder anderen meiner Begleiter sehen. Ein Specht beklopft einen Baum, an einem anderen springt schnell ein Eichhörnchen nach oben, lugt noch einmal kurz um die Ecke und ist im nächsten Moment verschwunden. Und immer wieder harte, schrille Tierstimmen, die disharmonisch die Stille durchbrechen wie ein Schrei. Ein leicht unheimliches Gefühl: hören ohne etwas zu sehen. Was geschieht um mich herum, an dem ich unwillentlich teilnehme? Der Boden unter meinen Füßen wird immer grüner, bis der Weg nur noch eine Spur ist. Den schmutzigen, von schweren Fahrzeugen zerrissenen Sandboden bedecken nun Gräser und alle möglichen Pflanzen. Inmitten des beginnenden Frühlings komme ich an Reckins Grab und seiner Eiche vorbei. Das Land ist nicht nur die Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Und Geschichte ist nicht nur eine Erzählung, die Menschen erdacht haben, sondern etwas, das mit dem Land verbunden ist. Reckins Grab ist einer dieser Orte, der eine ins Gelände geprägte Erinnerung einstiger Eregnisse bewahrt, ein versteckter, kaum auszumachender Platz, nur zu finden, wenn man von ihm weiß, eine fast vergessene narrative Spur. Solche Erzählungen bilden das Gesicht jeder Landschaft, beide sind eins. Werden sie vergessen, ist das Land ein anderes geworden, ist ärmer ohne sie, denn sie bilden seine Identität. Wenn die alten Namen verschwinden, gehen die Erzählungen mit ihnen verloren, denn die neuen Namen rufen keine Erinnerung an die Vergangenheit mehr wach.
Reckins Grab im Krämerwald In seiner Kurzen Geschichte des Glins mit Krämer und seinen Ortschaften berichtet Alfons Girzalsky 1929 auch vom Förster Reckin: Am Börnicker Weg, von Wolfslake aus kurz vor der alten Hamburger Poststraße, sieht man eine alte Eiche, die durch einen Stein als Reckins Eiche bezeichnet wird, und ungefähr 100 Meter weiter links liegt am Wege ein Reisighaufen mit der Bezeichnung Reckins Grab. In der alten Eiche versteckte sich zur Franzosenzeit 1806 oder in den darauffolgenden Jahren ein Förster namens Reckin. Sobald ein einzelner Franzose hier vorüberkam, schoss er ihn von hinten nieder. Als er eines Tages wieder einen Franzosen erschoss, sahen andere französische Soldaten, die ihrem Kameraden gefolgt waren, den Pulverdampf aus dem hohlen Stamm aufsteigen. Sie fanden Reckin und erschossen ihn. Einige Meter weiter wurde er später begraben. Noch heute soll auf die Stelle, die heute als Reckins Grab bezeichnet wird - das eigentliche Grab liegt ein Stück weiter im Wald - von Waldarbeitern und Beerensammlerinnen ein grüner Ast gelegt werden. Eine andere Version der Sage behauptet, dass die Franzosen Reckin an dieser Eiche aufknüpften, ein Heckenschütze wie die im Bosnienkrieg in Sarajewo, der schon vor 180 Jahren aus dem Hinterhalt operierte, bis ihn der Rauch aus seiner Flinte verriet. Ein Terrorist, würden heute manche sagen, ein Patriot die anderen, wie Robin Hood oder Johannes Bücker, auch Schinnerhannes genannt. So schreiben die Gewinner den Verlierern ihre Geschichte, und überlassen den Nachgeborenen die Wertung, die der jeweiligen Epoche geschuldet ist, selbst dann, wenn es um die Verteidigung der Heimat und politischer Überzeugung geht. Die historische Lesart, die Perspektive, bestimmen die Sieger, auch wenn heute niemand mehr die Namenskartuschen aus den Säulen der Tempel und Gräber meißelt. An Reckin scheint man sich respektvoll zu erinnern. |
Nur wenig später stehe ich auf einer Brücke über die A 10, am westlichen Berliner Ring, auf dem dichter Verkehr lärmend in beide Richtungen fließt. Viel Ruhe hat der alte Reckin hier nicht. Würde er heute auf der Fußgängerbrücke stehen, über die ich in den Wald auf die andere Seite fliehe? Würde er die Stille und den Frieden des Waldes verteidigen? Aber Reckin schläft tief in seinem grünen Grab, während der Verkehr Menschen und Güter in das urbane Zentrum von Berlin pumpt und dabei den Wald zerschneidet. Umspült vom Lärm der Autobahn gönne ich mir eine zweite Rast. Radler und Spaziergänger kommen vorüber, ohne Reaktion und starr geradeaus blickend. Ich bleibe nur kurz, breche auf, da es spät wird. Es dauert nicht lange, bis ich die nächste Autobahn, die A 24, die Berlin mit Hamburg verbindet, erreiche. Ich muss nun hinaus aus dem Wald, durch den ich seit Stunden gehe, und der mich inzwischen in seinen langsam atmenden Rhythmus aufgenommen hat. Hinaus aus der stillen Landschaft auf eine vielbefahrene, laute Landstraße, die in einem Kreisverkehr endet. Über eine andere Brücke überquere ich auch diese lärmende Schneise. Der starke Verkehr, der mir nach der Stille des Waldes unangenehm ist, zerstört die grüne Waldesstimmung, die Ruhe und Beschaulichkeit, die ich den ganzen Tag über aufgesogen habe. Vielleicht ging es Förster Reckin ähnlich, nachdem er seine Welt durch die politischen Umwälzungen der napoleonischen Kriege unwiederbringlich verloren sah.
Die letzten Kilometer nach Flatow führen mich parallel zur A 24 über einem alten Feldweg, innerlich grollend über das abrupte Ende des Waldes an der Grenze zur Zivilisation. Ich hätte mir einen anderen Abschluss der heutigen Etappe meiner Fußreise gewünscht. Meine Beine sind immer müder geworden, und ich wünsche mir, endlich anzukommen. Wie gut, dass ich zwei Trekking-Stöcke habe, auf die gestützt ich mich vorwärtsschleppe. Während Beine und Füße vom ungewohnten Gehen schmerzen, spüre ich die Last auf dem Rücken kaum.
Als es zu dämmern beginnt, erreiche ich Flatow, wo siebenhundert Menschen leben, über eine stillgelegte Eisenbahntrasse. Unvermittelt taucht der Ort hinter dem kahlen Grau einiger Bäume auf. Am Ortsrand verschämt im Schatten der Bäume eins der vielen Kriegerdenkmäler Brandenburgs des 18. Jahrhunderts, einer Epoche, in der die brandenburgische Landschaft immer wieder Schlachtfeld der verfeindeten Franzosen, Preu?en und Russen war. Am Ende einer langen Dorfstraße reckt sich endlich die ersehnte Kirchturmspitze in den Himmel. Nun weiß ich, dass ich angekommen bin. Immer der Kirche nach, wie es sich für einen Pilger gehört, stehe ich zehn Minuten später vor dem Gemeindehaus. Das Kirchengebäude steht auf einer flachen Anhöhe, etwas versetzt hinter dem Haus. Wie verabredet rufe ich die Herbergsmutter an, die auch sofort mit dem Schlüssel kommt und mir aufschließt. "Ich habe nicht viel Zeit", sagt sie, "gleich kommen meine Gäste und ich muss mich für den Besuch umziehen." Trotzdem zeigt sie mir zuerst die Kirche. "Das ist Standard," meint sie. Die eifrige Frau ahnt nicht, wie mühsam lächelnd ich mich auf den Beinen halte. Also gut, dann eben zuerst in die Kirche. Aber als sie zu erzählen beginnt, vergesse ich meine Müdigkeit schnell, und höre gespannt zu.
Aus der Chronik von Flatow Der Name Flatow leitet sich vom dem slawischen Wort Blatow, Sumpf, ab und weist gleich auf die Bodenverhältnisse im Bereich des Großen Rhin-Luchs hin. Nachweislich wurde das Dorf zum ersten Mal 1355 als Besitz der adeligen Familie von Bredow erwähnt. Ein Rechtsstreit vor dem Kammergericht in Berlin zeigt die Machtfülle derer von Bredow. 1451 entschied das Gericht, dass die Bauern von sechs Dörfern im Havelland, die der Familie von Bredow gehörten, zwei Tage in der Woche, vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit Wagen, Pferd oder zu Fuß der Herrschaft zu dienen hätten, ihm Holz für seine Küchen zu fahren sowie seine Schafe waschen und scheren müssen. Die Wetterfahne auf dem Turm der Kirche, in dem eine Glocke von 1717 zur Messe läutet, nennt das Jahr 1472. Urkunden bestätigen dieses Datum als das Gründungsjahr, in dem Matthias von Bredow die Kirche errichten ließ. Das Mischmauerwerk des Gebäudes, einst ein rechteckiger Saal, weist an mehreren Stellen der Backsteinwände noch die ursprünglich vermauerten Feldsteine auf. Die ehemalige Wehrkirche sieht man dem Bau nicht mehr an. Durch spätere Anbauten an der Nord- und Südseite der Kirche entstand der heutige kreuzförmige Grundriss. Ende des 19. Jahrhunderts erhielt der Westturm seine neugotische Form. Die unauffällige Dorfkirche, die etwas abseits der Straße liegt, birgt auf ihrer Rückseite eine Überraschung. Hinter den neugotischen Umbauten der Vorderseite, blieb außen an der Chorseite, im Osten der Dorfkirche, ein spätgotischer Staffelgiebel mit Lanzettblenden erhalten. Während des Dreißigjährigen Kriegs, im Jahr 1627, verloren die von Bredow ihre Rechte an Flatow und das Dorf ging in den Besitz des Dietrich von Hacke über. Später wechselte der Besitz des Dorfes an die Familien von Blumenthal und von Plessen. Die Lebensbedingungen der Landbevölkerung unter der Macht des preußischen Landadels überliefert eine Statistik aus dem Jahr 1779: Das Dorf enthält einen adeligen Hof von Fachwerk erbaut, einen Pfarrhof, ein Küsterhaus, 25 Bauernhöfe, den Krug und das Schulzengericht mit darunter begriffen: 14 Kossäthenhöfe, 14 Tagelöhnerhäuser, in welchem zum Teil zwei bis drei Familien wohnen, einen Müller und eine Schmiede mit Wohnung. Erst 1838 gelangte das Dorf in den Besitz wohlhabender Flatower Bauern. Der letzte Besitzer, Baron von Romberg, verkaufte das Dorf. Die neuen Besitzer nannten sich jetzt Bauergutsbesitzer, vor allem die Familien Plessow, Ebel, Falkenberg und Mäker. Zwischen 1912 und 1926 wurden Produktions- und Verkehrsbetriebe gegründet, die Lebensbedingungen im Dorf veränderten sich dramatisch und Flatow trat in das 20. Jahrhundert ein. Die Eisenbahnlinie Nauen - Oranienburg führte jetzt durch Ort, und die Straße nach Wustrow wurde gebaut. Flatow erhielt ein Sägewerk und weitere Arbeitsplätze in der Produktion. 2002 wurde Flatow mit fünf weiteren Gemeinden eingemeindet und ist heute administrativ ein Ortsteil vom Kremmen. |
In der Kirche erinnern nur die Sakramentsnischen in der nördlichen Chorwand an die Zeit vor der Reformation, als Pilgerscharen hier durchgezogen sein müssen. Heute ist davon nichts mehr übriggeblieben. Flatow ist ein unscheinbares Dorf, und nichts mehr weist auf das einstige Leben auf der Straße und um die Kirche hin. Ich kann mir das mittelalterliche Flatow zur Pilgerzeit unter dem Patronat derer von Bredow gut vorstellen. Eine Imagination mit geschlossenen Augen auf den Stufen des Gemeindehauses vor der Kirche in der Abenddämmerung: Auf dem etwas über Straßenniveau liegenden Platz vor der Kirche, deren tiefrote Backsteinmauern von weitem sichtbar waren, versammelten sich die Pilger. Sie lagerten auf dem Dorfanger, umgeben von fliegenden Händlern, die Essen anboten, Bauern, die ihre Produkte feilboten. Wasserträger mit einem Joch auf den Schultern, an dem auf jeder Seite ein irdener Krug hing, verteilten mit einer Schöpfkelle Wasser an die Durstigen. Vielleicht gab es sogar Marketenderinnen. Die Kirche lud die Gläubigen zur Beichte ein, ein Bettelmönch predigte und verkaufte Ablässe. Auf dem Platz vor der Kirche brannte ein Feuer an dem gekocht wurde. Taglich zogen Scharen von Pilgern durch Flatow, Angehörige aller sozialen Schichten, darunter Mönche und Kriminelle. Neugierige Dorfkinder liefen staunend hinter ihnen her. Vom Bellen der Hunden erschreckt und begleitet von den sehnsüchtigen oder misstrauischen Blicken, die ihnen die Erwachsenen zuwarfen, trafen sie in Flatow ein. Hühner flatterten umher oder scharten in der feuchten Erde, die vom Regen des Vortags noch nicht wieder trocken war. Gut, dass es in den Sommermonaten, wenn die Pilgerfahrten nach Wilsnack kulminierten, nicht so häufig regnete, und die Straßen von den Hufen der Pferde und den Kutschenrädern nicht umgepflügt und morastig waren. Im Schatten der Kirche hatte man vielleicht eine Plane ausgespannt, unter der kranke und verletzte Pilger zur Ader gelassen oder von heilkundigen Frauen aus der Umgebung mit Kräuterumschlägen oder Teezubereitungen versorgt wurden. Vielleicht gab es auch einen Bader mit seinem Karren, der Zähne zog, ihre Schwären und Wunden verband und den Pilgern Amulette und wundersame Tinkturen aus fernen Ländern aufschwatzte. Die hygienischen Bedingungen müssen katastrophal gewesen sein. An der offenen Kirchenpforte der kleinen Dorfkirche standen Bettler, die ihre Gebrechen zeigten und auf die Mildtätigkeit der Pilger hofften. Innen beteten die Gläubigen um eine glückliche Weiterreise, sangen Preislieder oder beichteten in einer Nische. Ob es in Flatow täglich Pilgermessen und Segnungen gegeben hat? Oder mussten die Pilger zur richtigen Zeit in Flatow ankommen, um die Eucharistie zu erleben? Es wird einen Geistlichen gegeben haben, der die Pilger bei der Ankunft und Abreise betreut hat, der sich ihrer Mühen und Kümmernisse annahm. Am späten Nachmittag bereiteten die Pilger, die für die Nacht bleiben wollten, ihr Nachtlager vor. Viel hatten die Fußpilger nicht dabei: ihren Stab, eine Pelerine, die ihnen Schutz vor dem Wetter bot und unter der sie Nachts schliefen, einen breitkrempigen Hut, eine kleine Tasche oder einen Beutel für ihren geringen persönlichen Bedarf. Nur der Adel reiste komfortabler.
Der Innenraum der kleinen Dorfkirche wird heutzutage von einem soliden Kanzelaltar, mit einem Kanzelkorb zwischen gewundenen Säulen und einfachen Akanthuswangen dominiert, sonst aber sehr schlicht, protestantisch, gestaltet. In der Predella gibt es auch hier die damals übliche Abendmahldarstellung. Links und rechts vom Schalldeckel flankieren zwei Engel den Altaraufbau. Darunter besitzt die Kirche eine Krypta in der sich Gräber der Familie von Bredow befinden. Der klassizistische Orgelprospekt auf der Westempore, ergänzt meine Gastgeberin, kam erst 1868 hinzu.
Im Gemeindehaus zeigt mir die gesprächige Herbergsmutter endlich mein Quartier, einen großen, rechteckigen Raum, an dessen hinterer Wand ein Altar mit einer improvisierten Kanzel aufgebaut sind. Darüber hängt ein einfaches Holzkreuz ohne den Leidensmann. Auf dem Altar liegt die aufgeschlagene Bibel auf dem Lesepult, wie in protestantischen Kirchen üblich. "Das ist unsere Winterkirche", verrät sie mir. In den kalten Monaten des Jahres findet hier der Gottesdienst statt, da die Kirche nicht beheizbar ist. Der Raum, gäbe es den Altar nicht, erinnert an den Saal eines dörflichen Wirtshauses. Von den siebenhundert Einwohnern sind nur zweihundert Mitglieder der Kirchengemeinde, von denen in dem Raum, in dem ich heute schlafen werde, nur wenige um die mit ihren Breitseiten aneinander geschobenen Tischen sitzen und die Messe feiern können. Rund um die Tische stehen eng gestellt die Stühle für die Gläubigen, darauf werben Flyer für das mittelalterliche Stadtfest im Juli in Kremmen, das jährlich um die Nikolai-Kirche stattfindet. An einem Wochenende wird 800 Jahre Kremmen mit Gottesdiensten und Unterhaltungsprogramm für Jung und Alt gefeiert. Übernachtung in der Kirche gratis. Kremmen ist eine alte Stadt; erste urkundliche Erwähnung bereits 1216, die Stadtrechte folgten schon 1298.
In einem Nebenraum des Gemeindehauses kann ich Kochnische und Bad nutzen. Dort stehen auch vier Klappbetten mit Schaumstoffmatratze für mich bereit. Ich habe die Wahl, und nehme das erste Bett aus der Reihe. Liege ausklappen, Schlafsack auslegen, liegen und dösen. Es ist erst 17 Uhr am Nachmittag, es dämmert bereits und ich schlafe sofort ein. Mit einem späten Abendessen, Brot, Käse und Tee, dass ich mir in der gut ausgestatteten Küche des Gemeindehauses zubereite, verbringe ich den restlichen Abend im Schafsack: lesend und ruhend, vermeintlich in der Hoffnung, schon heute Kraft für morgen zu sammeln. Im E-Book lese ich von Fontanes Anekdoten und seinen Wanderungen an Rhin und Dosse, durch das Wustrauer Luch, vom Leben in der Mark Brandenburg im 19. Jahrhundert, und von der besonders schmackhaften Butter, die hier für die Berliner Bevölkerung produziert wurde. Die Butter muss legendär gewesen sein.
Zwischen Flatow und Garz breitet sich das Havelländische Luch aus, dass weiter nördlich in das Rhinluch übergeht, einst eine Moorlandschaft, die Friedrich II. von Preußen durch ein umfangreiches Grabensystem trockenlegen ließ. Die daraufhin einsetzende Torfproduktion sicherte der Region einen kurzlebigen Wohlstand. Dem Alten Fritz war aber mehr daran gelegen, Acker- und Weideland für die Versorgung Berlins zu gewinnen. Zu diesem Zweck siedelte er Kolonisten an, die die Landwirtschaft organisieren sollten. Fremdarbeiter aus den Niederlanden, die geblieben sind. Fontane verschweigt auch nicht, dass das neu gewonnene Land dem Adel, nicht den Kolonisten gehörte.
Das Luch ist bis heute eine weitgehend ursprünglich gebliebene Landschaft, wohl aufgrund der schwierigen Produktionsbedingungen auf dem kargen und bitteren Boden. Heute ist er ein Reservat für Wasservögel, ein Rückzugsgebiet für den selten gewordenen Biber und Fischotter. Im Havelländischen Luch soll es noch größere Sprünge Rehe und auch Fischadler geben. Ich sehe die ersten Graukraniche auf ihrem Rückflug nach Norden, die in der einsamen Luchlandschaft brüten und ihre Jungen aufziehen werden, bevor sie vor Winteranbruch zurück in den Süden fliegen. Ich sehe zum ersten Mal diese majestätischen Vögel in Freiheit, die Peter Matthiesen Könige der Lüfte nennt, und bedauere es, dass sie mich nicht näher heranlassen, um die unbekannten Vögel aus der Nähe zu bewundern.
Die Nachbarin von oben schaut vorbei und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich könne nach oben kommen, wenn ich mich einsam fühle. Ich bleibe lieber mit Fontane allein, die Erwartung, dass es religiös wird, erscheint nicht verlockend. Dass man mich für einen Pilger hält, kann ich inzwischen akzeptieren, aber nach Theologischem steht mir trotzdem nicht der Sinn. Ich verfolge mit meiner Pilgerfahrt andere Ziele. Ich verliere den Bezug zu Fontanes Beschreibungen und schlafe schließlich ein.
Eine mittelalterliche Legende Die Legende von den Wilsnacker Wunderbluthostien überliefert ein Ereignis, dass als Plot für einen Fantasy-Roman dienen kann: Als die Wilsnacker am 16. August 1383 vom Havelberger Kirchweihfest zurückkehrten, lag ihr Dorf in Schutt und Asche. Der Ritter Heinrich von Bülow hatte Wilsnack niedergebrannt, weil er den Havelberger Bischof schädigen wollte, unter dessen Patronat Wilsnack damals stand. Die Bauern und ihr Pfarrer, Johannes Cabbuez fanden Hilfe im benachbarten Groß Lüben. Einige Tage später suchte der Pfarrer in den Kirchentrümmern nach drei geweihten Hostien, die er am Altar zurückgelassen hatte. Doch er fand sie nicht. In der Nacht vom 23. zum 24. August, dem Bartholomäustag, vernahm Johannes Cabbuez plötzlich eine engelhaft klingende Stimme, die ihm befahl, in Wilsnack die Messe zu lesen. Zusammen mit seiner Gemeinde kehrte er in den zerstörten Ort zurück. Auf dem Altar entdeckte er die drei Hostien - sie waren unversehrt, weder das Feuer noch der nächtliche Regen hatten ihnen Schaden zugefügt. Eine jede Hostie trug in ihrer Mitte rötliche Verfärbungen wie Blutstropfen. Der Tag, an dem Joannes Cabbuez die Hostien in der niedergebrannten Kirche fand, ist dem Heiligen Bartholomäus gewidmet, einem Tag, der kaum zweihundert Jahre später in der französischen Geschichte eine blutige Spur hinterlassen sollte, in einer Zeit nach der lutherischen Reformation, die auch die Pilgerfahrt nach Wilsnack beendet hat. In der Bartholomäus-Nacht, der Nacht vom 24. August 1572, wurden auf Geheiß von Katharina de Medici zweitausend französische Hugenotten heimtückisch ermordet, ein Ereignis, das George R.R. Martin in seinem Fantasy-Bestseller Das Lied von Eis und Feuer in der Bluthochzeit am Hof von Lord Walder Frey wieder aufleben lässt. Bartholomäus war einer der zwölf Jünger Jesu, ein Gelehrter, der auch mit dem Gefolge Johannes des Täufers in Verbindung gebracht wird. Seine Missionstätigkeit umfasste Persien, Armenien; er soll sogar bis nach Indien gekommen sein. Bartholomäus ist ein prominenter Heiliger der katholischen Kirche und das ökomenische Heiligenlexikon schildert eine Vita, die zu dem späteren Wallfahrtsort Wilsnack ausgezeichnet passt, da sie an Jakobus den Älteren erinnert, zu dessen Grab Wallfahrer aus ganz Europa pilgern. Auch die Gebeine des Batholomäus fanden die Aufmerksamkeit von Pilgern. Seine Vita ist in den Heiligenlegenden mit zahlreichen, übernatürlichen Wundern und Heilungen ausgeschmückt. Im 5. und 6. Jahrhundert war Albayrak bei Bachkale in Armenien (heue Başkale in der Türkei) ein viel besuchter Wallfahrtsort, an dem eine Reliquie verehrt wurde, von der behauptet wurde, es handelte sich bei ihnen um die Gebeine des Bartholomäus. Später kamen sie auf die Insel Lipari in Italien und 838 wegen eines Sarazeneneinfalls nach Benevent. Kaiser Otto II. brachte die Gebeine 983 nach Rom, wo sie in der dafür erbauten Kirche S. Bartolomeo all'isola verwahrt werden. Der Vergleich zu der Heiligenvita von Jakobus dem Älteren drängt sich auf. Seit dem 9. Jahrhundert, jährlich am 24. August, erinnern sich Katholiken und später auch Protestanten an die Anspülung der Gebeine des Apostels Bartholomäus an den Strand der Insel Lipari, die wie die Gebeine des Apostels Jakobus an eine Küste geschwemmt wurden. Eine späte Legende berichtet nämlich davon, das die Gebeine des Bartholomäus von Ungläubigen, zusammen mit denen von vier anderen Märtyrern, in einen Bleisarg gelegt ins Meer versenkt wurden. Im landwirtschaftlichen Zyklus der bäuerlichen Bevölkerung bildete dieser Tag eine wichtige, jahreszeitliche Zäsur, denn der Tag trennte Sommer und Winter: Ende der Ernte, Tod der Vegetation und Neubeginn der Aussaat. Für die Bauern und Fischer bildete der Barthel, der Bartholomäustag, eine klimatische Grenze. Der Barthel markierte das Ende des Sommers, der Getreideernte und den Beginn der Aussaat für das nächste Jahr. Am Bartholomäustag endete auch die Schon- und Laichzeit der Fische, ein Festtag für die bäuerliche Bevölkerung, mit dem der Fischfang wieder eröffnet wurde. Fischessen, Prozessionen und Fischzüge fanden an diesem Tag statt, der Fischerkönig wurde gekürt, der Fischer mit dem erfolgreichsten Fang. Mit der Auswahl der Gänse und Karpfen begannen an diesem Tag die ersten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Zahlreiche Bauernregeln, die das Wetter im kommenden Herbst und Winter prognostizieren, beziehen sich auf den Bartholomäustag. In der sumpfigen Landschaft des Havel- und Rhinluchs hat man auf das Verhalten der Störche geschaut haben: Bleiben Störche nach Bartholomä, kommt ein Winter, der tut nicht weh. Diese Fundumstände, und die dazu passenden Überlieferungen, zogen weitere Wunder nach sich, und das Heilige Blut in Wilsnack erlangte schnell den Ruf, beim Gelöbnis einer Wallfahrt Gefangene zu befreien, Kranke zu heilen, ja selbst Tote wieder zum Leben zu erwecken. Gefördert wurde die entstehende Wallfahrtsbegeisterung mit bischöflichen und päpstlichen Ablässen, die die spontane Volksgläubigkeit schnell in eine institutionalisierte Struktur umwandelte. Wilsnack-Kritiker beschuldigten Johannes Cabbuez schon sehr früh, ein Betrüger zu sein. Im 19. Jahrhundert meinte man, mit dem Wunderpilz Micrococcus prodigious eine naturwissenschaftliche Erklärung für die zahlreichen Blutwunder des Mittelalters gefunden zu haben. Doch was auch immer sich an diesem bedeutungschweren 24. August 1383 in der Prignitz ereignet hat, die Wilsnacker Legende zeigt, was Menschen einer anderen Epoche bereit waren zu glauben, was sie für möglich und wirklich hielten. |
Wandern für den Frieden, die Überwindung von Grenzen zwischen Menschen und Kulturen. Viele Menschen machen sich im 21. Jahrhundert wieder auf den Weg? Flucht vor Zerstörung, Krieg und Tod. Man nennt es Migration, versucht der Bewegung ein vernünftiges Maß zu geben, sie zu organisieren, zu regulieren, zu kontrollieren und zu verwalten. Aber es ist eine Odyssee. Ein Exodus biblischen Ausmaßes, der auf Europa zurollen wird, das die Voraussetzungen dafür selbst geschaffen hat, sich nun vor der Verantwortung drücken will. Viele Ängste müssen bewältigt werden, viele Strohhalme ergriffen, und wenn nichts mehr weiter hilft, brechen die Menschen auf. In die Freiheit! Ins Ungewisse! Das war schon immer so, und niemand würde sich anders entscheiden, wenn es ums Überleben geht. Viele finden dabei den Tod, die sehr viel jünger sind als ich. Wie lange werden sie sich lange gefürchtet, sich besonnen, überlegt und auf eine Alternative gehofft haben?
Flucht bedeutet einen neuen Standpunkt finden. Die Perspektive wechseln. Bereite ich mich auf eine Flucht vor? Auf einen anderen Ausbruch, der sich zwar nicht vergleichen lässt, sich aber trotzdem existenziell anfühlt. Eine Flucht benötigt keine Rechtfertigung, es reicht aus, dass es so nicht mehr weitergeht. Es gibt kein richtig oder falsch, kein gut oder schlecht. Es sind die Orte der Betrachtung, die erst nachträglich zu Bewertungen werden, nachdem wir sie mit unseren Vorurteilen, Ängsten und Hoffnungen aufgeladen, manchmal verunreinigt haben. Offene Weite, nichts Heiliges!", antwortete der Mönch Boddhidharma dem chinesischen Kaiser Wu auf die Frage: Was ist das Wesen der höchsten, heiligsten Wahrheit? Meine Perspektive hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt ich mich an welchem Ort befinde, denn jede Bewegung verändert den Standpunkt. Was ich wahrnehme, entscheide ich selbst: Wo stehe ich? Wohin bewege ich mich? Wie offen bin ich? Je höher mein Standpunkt, desto umfassender wird meine Sicht auf meine Beziehungen und auf meine Umgebung, die schon mein Nachbar anders erlebt und bewertet. Jede Bewegung hält ein potentielles Abenteuer bereit. Das ist die frohe Botschaft des Nomaden. Der polnische Dichter Stanislav Lec äußert in seiner Gedichtssammlung Unfrisierte Gedanken die Meinung, dass jeder Schritt gefährlich ist; er könnte der Beginn eines neuen Tanzes sein. Fantasierte Gefahren behindern eine Bewegung durch die Zeit und in den Raum. Auch damit müssen die Geflüchteten nach Europa umgehen.
Ich habe lange die Illusion genährt, es käme nicht darauf an, in fremden Kulturen zu reisen und zu leben oder mich mit meinen Patienten durch deren Innenwelten zu manövrieren. Meine eigene Welt bereiste ich in all den Jahren dann nur noch nebenbei. Es sei dasselbe, habe ich mir eingeredet, obwohl ich hätte wissen müssen, dass Innen und Außen zwei Pole des Bewusstseins bilden. Wir träumen von Reisen in das Weltall, schrieb einst Novalis. Ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. - Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. Aber er muss auch wieder herausführen: Komm! Ins Offene, Freund, antworte ich ihm mit dem verrückten Hölderlin. Für mich ist es an der Zeit, die Innenräume zu verlassen und herauszutreten. Die Gedanken längst Verstorbener sind eine Pilgerfahrt wert?
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