Montag, 21. März 2016

Auftakt


Es gibt Länder, wo was los ist
Es gibt Länder, wo richtig was los ist und es gibt
Brandenburg Brandenburg

[…]
In Berlin kann man so viel erleben, in Brandenburg
Soll es wieder Wölfe geben, Brandenburg

Rainald Grebe

Eine satirische Hymne, in der das Wort Brandenburg redundant vorkommt, muss etwas bedeuten. Die Versfragmente aus Rainald Grebes Lied Brandenburg drücken die Spannung aus, die in den beiden unterschiedlichen Weisen liegt, sein Leben zu verbringen. Da ist die Stadt Berlin mit ihrer verschlingenden Urbanität, umgeben von einem Bundesland, in dem nichts los sein soll. Der Gegensatz von Stadt und Land wird thematisiert. Die vielen Möglichkeiten von Arbeit, Begegnung, Konsum und Kultur locken die Brandenburger in die Stadt und verführen sie. Die wenigen Möglichkeiten auf dem Land frustrieren und fordern auf, sich auf den Weg ins gelobte Land zu machen. Das war schon immer so, und nun hat es Brandenburg getroffen. Anonymität im Dschungel der Stadt versus individuelle Sichtbarkeit in Spot sozialer Kontrolle. Jeder kennt jeden auf dem Land, manche kennen einige in der Stadt. Einer von drei Millionen zu sein, wird plötzlich erstrebenswert. Macht Stadtluft wirklich frei? Oder macht sie inzwischen schon krank - physisch und psychisch? Der Journalist Henning Sußebach geht den umgekehrten Weg. Er macht sich auf, das zu entdecken, wovon Rainald Grebe in seinem maskierten Liebeslied singt: das Land. Schon Martin Luther schrieb eine Parabel zum Thema: Von der wohlhabenden Stadtmaus und ihrer armen Verwandten, der Feldmaus, um nicht gleich von Stadtmensch oder Landmensch zu sprechen. Die Feldmaus entscheidet sich freiwillig für ihr bescheidenes Landleben, nachdem sie einer Einladung der Stadtmaus in ihr Revier gefolgt ist, und dort beinahe gestorben wäre. Und die Moral, die die Feldmaus ihrer reichen Verwandten entgegenhält: Ich bin frei, und meine Armut nehme ich dafür in Kauf.
Henning Sußebach stellt auf seiner Wanderung fest, und das ist das Besondere an seinem Bericht, dass sich Stadtmensch und Landmensch nicht mehr verstehen, nicht mehr solidarisch sind. Umwelten und Lebenswelten sind zu verschieden geworden. Kaum das der eine noch was vom anderen weiß. Empathisch? Als gebe es kein Leben außerhalb der Großstadt, spricht der Hamburger Journalist von der urbanen Herablassung des Städters. Auf seiner Wanderung durch Deutschland, von Nord nach Süd, kommt es ihm vor, als befände ich mich exakt auf einer Kluft, auf einer historischen Verwerfung, die zwischen Stadt und Land, zwischen Avantgarde und Abgehängten, zwischen Morgen und Gestern zu verlaufen schien, womöglich aber auch zwischen Arroganten und Ignorierten. Deutschland hat kein soziales Nord-Süd-Gefälle, sondern ein Stadt-Land-Gefälle. Rainald Grebe, und schon Martin Luther, erzählen von diesem modernen Stadt-Land-Dilemma, wenn sie es auch nicht unmittelbar benennen. Stadt und Land sind nicht reziprok, sie sind antipodisch. Das war schon immer so. In der Stadt vermutet man die Lebensqualität, auf dem Land die Zurückgebliebenheit. Dominiert von Großbetrieben mit Maschinen und Monokultur, automatisierter und chemisch gedopter Landwirtschaft sowie umweltzerstörender Massentierhaltung, was mittlerweile unser Trinkwasser bedroht. Daneben kulminieren Arbeitslosigkeit und Langeweile. Wer heute noch in den entleerten Dörfern und Regionen Brandenburgs lebt, das glaubt der Stadtmensch, hat es aus irgendeinem Grund nicht geschafft, von dort fortzukommen. Warum sollte jemand freiwillig in Brandenburg bleiben? Trotzdem gehe ich wieder hin, und, was erstaunlich klingt, viele bleiben gern. Die Schönheit der Landschaft und die historische Bedeutung Brandenburgs, die Theodor Fontane Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg in fünf Büchern beschrieb, haben die Zeiten überdauert. Wer durch Brandenburg wandert wird feststellen, dass Fontanes Texte nicht das einzige sind, was von Brandenburg übriggeblieben ist. Doch dazu braucht es eben diesen feinen Natur- und Landschaftssinn, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit, sich vom ganz Anderen des modernen Lebens berühren zu lassen, sich einzulassen, offen zu sein, zu riskieren, dass sich das Band, das uns mit dem Alltag verbindet, für einen Moment lockert. Reisenden in der Mark gibt Fontane ein Sprichwort, das von manchen Frauen handelt, mit auf dem Weg, und das der Landschaft noch immer entspricht: Auch die häßlichste hat noch immer sieben Schönheiten.

Das Land Brandenburg ist nicht irgendein Bundesland. Wer zu Fuß durch Brandenburg reist, betritt eine Region, die lange Zeit eine herausgehobene Rolle in der deutschen Geschichte spielte. Zeugnisse aus dieser Zeit findet man bis in die entlegensten Orte. Der Wanderer streift durch eine besondere deutsche Landschaft, die Mark, die nicht so aufdringlich spektakulär daherkommt wie das Matterhorn oder die Ostseebäder. Die Region war schon vor dem 12. Jahrhundert Territorium des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Seit dem 13. Jahrhundert besaß der brandenburgische Markgraf eine wichtige Stimme als Kurfürst bei der Wahl der deutschen Könige. Die Altmark westlich der Elbe, die Mittelmark, das Kernland zwischen Elbe und Oder, und die Neumark, die Gebiete östlich der Oder im heutigen Polen sowie Teile der Niederlausitz bildeten einst diese Region mit dem heute antiquiert klingendem Namen. Eine Mark, vom Lateinischen marchia, war im mittelalterlichen Europa das Grenzgebiet eines Reiches. In Brandenburg an Oder und Elbe gegen die vordrängenden Slawen. Karl der Große führte das System der Marken ein, um die durch die Kriege der Franken eroberten Gebiete zu halten. Den Markgrafen wurde eine Mark vom König als Lehen gegeben, mit dem Recht des Befestigungsbaus und der Mobilmachung, den Heerbann im eigenen Territorium aufzubieten. Die südlichen Gebiete des Bundeslands Brandenburg gehörten nie zur Mark; weder historisch noch territorial, denn hier gab es keine Grenzen zu sichern.
Märkische Heide, märkischer Sand, die erste Zeile der heimlichen Nationalhymne Brandenburgs, eine Landschaft, die des Heiligen Römischen Reichs Streusandbüchse genannt wurde. Sand und Heide als charakteristische Merkmale einer Landschaft? Weit gefehlt! Die Verse des anderen Brandenburglieds, das Rainald Grebe verschweigt, erzählen von uralten Eichen, dunklen Kiefernwäldern, grünen Birken am Wegesrain, blauen Seen, Wiesen und Mooren. Vom roten Adler, dem Wappentier Brandenburgs, der hoch hinauf in die Lüfte steigt; den Rotmilan und Wanderfalke abgelöst haben. Berggipfel hat die Mark nicht zu bieten, die höchste Erhebung ist gerade einmal hundertfünfzig Meter hoch. Keine Berge, die zu bezwingen des Wanderers Herz höherschlagen lassen. Stattdessen gibt es in Brandenburg über dreitausend Seen, die Berlin einrahmen wie eine Insel. Vielfältig verbinden Gewässer und unzählige Wasserläufe die Seen; Entwässerungsgräben, Schifffahrtskanäle, Bäche und kleine Flüsse, dazu noch Dorfteiche, Wald- und Wiesentümpel, Sümpfe-, Torf- und Moorlandschaften. Dazu kommen die künstlich angelegten Fischteiche, deren Ernte in Imbissbuden und Restaurants angeboten werden. Brandenburg bietet keine spektakulären Schönheiten, darauf weist Fontane immer wieder hin, wenn er von dem gröberen Blick spricht, der reizüberflutet, erwartungshungrig und abgestumpft ist. Die Schönheit der brandenburgischen Landschaft will erworben werden. Wie eine schüchterne Geliebte wartet sie auf den Richtigen, der sie versteht und zu nehmen weiß. Wer zu Fuß geht, hat die besten Chancen erhört zu werden.

Die Mark Brandenburg besitzt den größten Anteil an Naturschutzgebieten deutscher Bundesländer, und ist dabei alles andere als eine ursprüngliche Naturlandschaft. Die Eiszeit hat der Landschaft ihr Profil gegeben, aber menschliche Landschaftsgestaltung hat sie in Jahrhunderten gestaltet. Die Eismassen haben nordische Gesteine bis nach Brandenburg geschoben, das abfließende Eiswasser hat Rinnen und Seen zurückgelassen und mit ihrem Schmelzwasser gefüllt. Die Klimaerwärmung nach der letzten Eiszeit begünstigte die Vegetation. Es entstanden Urwälder aus Birken, Buchen und anderen Baumarten. Menschliche Besiedlung rodete die Wälder und schuf landschaftlich nutzbare Inseln im zusammenhängenden Wald. Felder und Weiden werden mittlerweile durch Hecken und Gehölze begrenzt. An den Wegen zwischen den Feldern wachsen Büsche und Obstbäume. Die modernen Wälder, besonders die Monokultur der Kiefernwälder, waren einst Produkte einer planvollen Forstwirtschaft, die angesichts der fortschreitenden Klimakrise durch nachhaltige Mischwälder ersetzt werden sollen.
Charakteristisches Merkmal der brandenburgischen Landschaft sind die Flüsse mit ihren wechselnden Betten, mit ihren Verzweigungen und seeähnlichen Buchten. Menschliche Bedürfnisse zwangen die Flüsse in geordnete Bahnen, sumpfige Uferbereiche wurden durch Kanäle urbar gemacht. Die weitgehend unregulierte Havel hat sich diesen Begehrlichkeiten bis heute entzogen.
Die Seen der brandenburgischen Landschaft liegen zwischen Feldern, Wiesen und Wäldern eingebettet, oft versteckt. Ihre Gestalt erhielten sie vor zehntausend Jahren als sich die Weichseleiszeit zurückzog. Sie prägte die Form der Flussseen wie der Havelgewässer genauso wie die tieferen Rinnenseen. Die Seen der Eiszeit unterlagen einem Alterungsprozess, der deren Lebenszyklus mit Moorbildung und Verlandung abschloss. Sümpfe und Feuchtgebiete boten zahlreichen Wasservögeln ein artgerechtes Biotop bevor sie versandeten. Wassertiefe, Sauerstoffgehalt und Nährstoffe ermöglichen verschiedenen Fischarten einen idealen Lebensraum, so der Maräne in tiefen, klaren und sauerstoffreichen Seen, dem Zander in den trüben, flachen und schlammigen Landseen oder dem Hecht und der Schleie in den klaren Waldseen mit ihren Krautwiesen und aquatischen Pflanzengemeinschaften. Während die meisten Fischarten keine natürlichen Populationen sind, gehört der Wels zu Brandenburg wie der rote Adler. Neue Seen entstanden durch Torfstiche und Torfgruben, durch Kiesgrube und Tagebau. Künstliche Wasserwege, Entwässerungsgräben und Kanäle, verbinden die großen Seen und erschließen sie als Transportwege für die Schifffahrt.
Eine andere Hinterlassenschaft der letzten Eiszeit sind die großen Findlinge und Feldsteine, die von den skandinavischen Eismassen zerkleinert, geschliffen und nach Süden geschoben wurden. Gesteine der nordischen Gebirge, um die sich volkstümliche Sagen und Namen ranken, liegen als kubikmetergroße Felsbrocken im Gelände. Die aus diesen Riesensteinen errichteten Hügelgräber datieren aus der jüngeren Steinzeit und der Bronzezeit, von einzelnen Großsteinen vermutet man, dass sie rituellen Praktiken dienten. Die viel kleineren Feldsteine besaßen einst als Baumaterial für Burgen, Kirchen und Stadtbefestigungen eine große Bedeutung. Das Gemäuer vieler brandenburgischen Kirchen wurde aus den auf den Feldern gesammelten Feldsteinen errichtet.

Brandenburg ist von vielen kleineren Dörfern geprägt, deren Häuser sich um eine Dorfkirche, ein Herrenhaus oder ein Schloss gruppieren. Drei Dorfanlagen sind für die Region charakteristisch: das Angerdorf, mit seiner langen Dorfstraße, die sich im Zentrum teilt, wo sie Kirche, Teich und Schmiede wie auf einer Insel umschließt, das Runddorf mit nur einem Zugang zur Dorfmitte und den sie kreisförmig umgebenen Häusern sowie das Straßendorf mit einer Zugangsstraße, die das Dorf teilt, und wo Kirche, Teich und Schmiede im Ortszentrum auf einer Seite der Straße liegen. Den Kirchen aus Feldsteinen ist ihr ehemaliger Festungscharakter immer noch anzusehen. Sie waren einst als Wehrkirchen mit Fenstern wie Schießscharten für den Schutz der Bevölkerung unerlässlich. Und der Dorfteich, er war Waschplatz und Reservoir für das Löschwasser bei Bränden. 1400 Dorfkirchen soll es in Brandenburg geben. Aus großer Entfernung sichtbar, bieten sie dem Fußgänger Orientierung und Ziel. Nachdem die Mark Brandenburg im 12. Jahrhundert von Zisterziensern christianisiert wurde, entstanden im 13. Jahrhundert diese charakteristischen, vollständig mit Feldsteinen erbauten Wehrkirchen, Zufluchtsort der Dorfbewohner in unruhigen und kriegerischen Zeiten, mit später ergänztem Turm und Schießschartenfenstern. Sie gehören zum ältesten Kulturerbe Deutschlands, das immer noch genutzt wird, aber dessen Erhaltung aufgrund fehlender Mittel der Kirchengemeinden ungewiss ist.
Mit dem Rückgang des Eises drangen prähistorische Sammler und Jäger in die Mark Brandenburg ein. Ausgrabungen belegen, dass Menschen hier seit zehntausend Jahren leben. Archäologische Funde weisen auf eine keltische Besiedlung sowie auf hier lebende nordische Völker hin. Mit der Völkerwanderung kamen im 6. Jahrhundert die Slawen nach Brandenburg und ließen sich dauerhaft in der Region nieder. Kurz nach ihnen zogen germanische Stämme durch die Mark und breiteten sich in ganz West- und Nordeuropa aus. Der Zusammenprall beider Ethnien benachteiligte die am weitesten westlich lebenden Slawen, die ihre Sprache und Kultur verloren. Reste slawischer Sprache in Brandenburg erhielten sich im Spreewald. Orts- und Familiennamen mit den Endungen -ke und -ow sind immer slawischen Ursprungs. Mit den Hohenzollern, seit dem 15. Jahrhundert, kamen neue Siedler und Kolonisten in die Mark, die von den Machthabern gezielt angesiedelt wurden. Die Flamen, von denen der Fläming seinen Namen erhielt, Religionsmigranten aus Frankreich und Böhmen sowie Deutsche aus anderen Landesteilen folgten dem Ruf, erhielten zu kultivierendes Land und leiteten den wirtschaftlichen Aufschwung der Mark Brandenburg ein. Die brandenburgische Bevölkerung ist heute ein Konglomerat der slawischen Urbevölkerung, von Germanen und Deutschen, Franzosen, Holländern und Böhmerländern. Nach dem Zweiten Weltkrieg erneuerte sich die Bevölkerung ein weiteres Mal. Viele Brandenburger flohen vor der Roten Armee nach Westen und machten den nachrückenden Flüchtlingen aus dem Osten, von jenseits der Oder und Neiße Platz. Der sogenannte Berliner Speckgürtel mit den neugegründeten Industriegebieten und Wohnsiedlungen für die wohlhabende Berliner Bevölkerung, die keine Brandenburger, sondern von überall her Zugezogene sind, vervollständigte die multiethnisch gemischte Bevölkerung der Mark Brandenburg.

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