Donnerstag, 31. März 2016

Pilgerzeichen auf alten Glocken


Am nächsten Morgen wache ich wieder ungewöhnlich früh auf. Das Fenster ist beschlagen. Außen folgen Regentropfen in dünnen Schlieren der Erdanziehung und zeichnen skurrile Wasserbilder auf die Scheiben. Durch ein regennasses Fenster blicke ich auf eine tieforang angestrahlte Wolkenlandschaft, hinter der sich die Sonne für einen Augenblick die Ehre gibt. Hoffnung auf gutes Wetter. Noch während ich zuschaue, wird das Leuchten schwächer, verblasst und verschwindet schließlich in den schweren nassen Wolken, die tief am Himmel hängen wie in einem nassen Sack. Der lichte Hoffnungsstreifen am Horizont verlöscht. Schneller als ich mir wünsche, kommt der Regen zurück.
Ich entscheide mich für einen Poncho und damit für Neuruppin, die Kreisstadt, wo ich hoffe, ein Sportgeschäft zu finden. Damit entscheide ich mich auch für die zweite Busfahrt meiner Fußreise. An der Haltestelle stehe ich mit vielen anderen im Nieselregen auf der Straße und warte auf den Bus. Die Fenster des historischen Postgebäude gegenüber, das ich gestern noch für aufgegeben hielt, sind hell erleuchtet. Eine Stunde später komme ich in Neuruppin an, mit all den Pendlern, auf dem Weg zur Arbeit. So viele Jahre bin ich selbst diesen Weg gegangen, nun froh darüber einen anderen Weg gefunden zu haben. Die lange Fahrt durch ein Industriegebiet geht in eines dieser ewig gleichen Wohnsilos der Stadtränder über, löst sich auf in die in brandenburgisch-preußischer Manier geometrisch realisierte Stadtanlage, das historische Neuruppin. Ich stehe im Regen vor einer großen Pfarrkirche in der Altstadt, von wo die Busse in alle Richtungen abfahren. Der nach Fehrbellin fährt nur dreimal am Tag. Gegenüber das Stadtcafé, mehr ein Kiosk. Meine Hoffnung auf einen heißen, anregenden Cappuccino steigt. Schließlich drückt mir eine hektische Frau einen Pott Filterkaffee in die Hand, den ich nach dem zweiten Schluck ungesehen in einem Blumentopf entsorge. Hundert Meter weiter finde ich ein Sportgeschäft mit einem gesprächigen Verkäufer, der mich ausführlich ausfragt. Er ist der erste, der das Heilige Jahr in Aachen, meiner Heimatstadt, erwähnt, an eine andere, bedeutende mittelalterliche Wallfahrt erinnert. Alle sieben Jahre werden dort Reliquien aus der Frühzeit des Christentums zur Schau gestellt.


Die Aachener Heiligtumsfahrt

Aachen war im Spätmittelalter, neben Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela, eine der großen, wichtigen Wallfahrtsorte. Für die Pilger aus Nord- und Osteuropa war Aachen auch Treffpunkt und Sammelplatz für die Weiterreise nach Santiago, da hier die Deutsche Niederstraße, einst eine der bedeutendsten, nördlichen Pilgerwege nach Santiago begann.
Die Aachener Heiligtümer fanden vermutlich schon unter Karl dem Großen ihren Weg nach Aachen. Die fränkischen Reichsannalen berichten, dass zur Einweihung der Pfalzkapelle im Jahr 799 ein sagenhafter Reliquienschatz aus Jerusalem übersandt wurde. Die vier textilen Aachener Heiligtümer gelten als Berührungsreliquien, bei denen sich die Kraft der verehrten Personen, Christus und Maria, via Kontaktmagie auf die Stoffe übertragen haben soll. Gezeigt werden während der Aachener Heiligtumsfahrt das Kleid Mariens, die Windeln Jesu, das Lendentuch Jesu sowie das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Kurioserweise wurde erst im 13. Jahrhundert, anlässlich der Erstellung und Einweihung des neuen Marienschreins, bekannt, was sich in der karolingischen Reliquienlade befindet.
Als Kind habe ich miterlebt, wie in der Enge enthusiastischer Menschen im überfüllten Domhofs von einem Balkon ein härenes Kleid gezeigt wurde. Ich erinnere mich an die ehrfürchtige Spannung einer magischen Einleibung, die die Gläubigen in einen andächtigen Jubel ausbrechen ließ. Ich glaube nicht, dass das heute noch möglich ist. In einem Sportgeschäft in Neuruppin fällt mir wieder ein, was ich sonst nicht mehr gewusst hätte.

Für mich hat der Mann im Laden nur einen hässlichen hellblauen Poncho aus wasserdichtem Plastik. Immerhin ein seltenes Stück, aus einem Werk, dass schon zu DDR-Zeiten Regenbekleidung produzierte. Innen ausgekleidet mit einer gummierten Schicht, die jedem Regen trotzt. Meinen alten Poncho überlasse ich ihm. Verständnisvoll lächelnd verstaut er mein ausgedientes Kleidungsstück unter der Ladentheke.
Zurück nach Fehrbellin, um an den Pilgerweg anzuknüpfen, komme ich heute nicht mehr ohne noch eine Nacht im alten Bahnhof zu übernachten. Der nächste Bus fährt erst am späten Nachmittag. Bleiben nur die Busse nach Wusterhausen oder Kyritz, denn der nach Protzen ist bereits abgefahren. Die nächste Möglichkeit, nach Protzen zu kommen, gibt es auch erst am Nachmittag. Ich enscheide mich für Wusterhausen, um dort an den Pilgerweg anzuknüpfen. Abfahrt halb elf. Ich warte im Häuschen der Bushaltestelle und beobachte den Regen, der die Passanten zur Eile antreibt. Ich muss lächeln, denn der Besitz des neuen Ponchos befriedigt mich, während ich spüre, wie Hose und Jacke langsam trocknen. Um elf Uhr steige ich in Wusterhausen aus dem Bus. Es hat aufgehört zu regnen. Jetzt ist es nur noch kalt. Meinen eben erst erworbenen Poncho verstaue ich im Rucksack. Ein wenig mehr Vertrauen wäre hilfreich gewesen.
Das Zentrum Wusterhausens bildet ein ausgedehnt langer, rechteckiger und leicht abschüssiger Marktplatz, an dessen Seiten kleine Häuser mit zwei Stockwerken aneinandergereiht sind. Parkende Autos und ein menschenleerer Marktplatz bestimmen meinen ersten Eindruck von Wusterhausen. Der einzige Imbiss am Platz, der mir gestern empfohlen wurde, ist gut besucht. Fleisch steht auf der Speisekarte und für mich das einzige vegetarische Gericht des Imbiss, eine Gemüselasagne. Alle anderen Geschäfte und Lokale sind geschlossen. Die Szenerie des Markts beherrschen ordentlich abgestellte Autos und der dominierende Kirchenbau, dessen erdrückend Einschüchterndes mir im Nacken sitzt. Ich umrunde das alte Gemäuer, will nicht eintreten, da mir seine abweisende Ausstrahlung nicht behagt.
In der Stadt versuche ich lange vergebens, den Pilgerweg rückwärts nach Barsikow zu finden, da die drei gelben Punkte nur in eine Richtung weisen: nach Wilsnack. Ich lese Hinweisschilder und frage Passanten. Wieder das Frage-Antwort-Spiel: Niemand weiß etwas Genaues. Ich suche die Richtung ins neun Kilometer entfernte Kyritz, der nächsten Station des Pilgerwegs, in der Hoffnung, dort auf Wegmarken in beide Richtungen zu stoßen. Bei der Brücke über die Dosse finde ich nur die gelben Punkte nach Kyritz. Überall in der Stadt kleben die orangefarbenen Wilsnack-Aufkleber mit den drei Wunderhostien an Wänden und den Pfosten von Verkehrsschildern. Eine Richtung geben sie nicht an. Außerdem will ich nach Barsikow, schon wegen der verlockenden Aussicht, in einem Kirchturm zu übernachten. Ein Gedanke, der mich fasziniert. Ich bin gespannt, wie es sich im Inneren eines Kirchturms anfühlt. Ich glaube, ich war noch ein Kind, als ich zuletzt in einen Glockenturm gestiegen bin.
Vage weist mir schließlich ein Punk mit rotem, neonfarbenen Lippenpiercing und grünen Haaren, der gerade den Müll nach draußen bringt, die Richtung nach Barsikow. Also gehe ich in die Richtung, die der Grünhaarige mir gezeigt hat, wandere in die andere Richtung durch die Stadt auf eine stark befahrene Landstraße zu. Aus einem unbestimmten Gefühl biege ich links ab. Ein Arbeiter im Straßenbau sagt nur, dass er auch nicht von hier ist.
Auf beiden Seiten der Landstraße dehnen sich Wiesen und Felder aus. Weiter hinten säumen kleine Waldstücke die Felder. Mit müden Füßen, Muskelkater in den Oberschenkeln und Schmerzen in den Hüften, entscheide ich mich orientierungslos für die erste Straße, die aus der Stadt hinausführt. Ich hoffe, sie endet in Barsikow.
Die Straße überrascht mich mit einem makellos asphaltierten Fahrradweg. Aber was für Radwanderer eine Freude ist, macht mir Mühe. Asphalt ist eben kein Feldweg, und auch kein weicher, federnder Waldboden. Während rechts von mir die Windanlagen kreisen, fliegt hoch über mir trompetend ein einsamer Kranich. Die Säulen eines großen Windparks stechen wie Stacheln in den Himmel. Die Propeller der Windanlagen drehen sich surrend und behäbig um ihre Achsen. Unermüdlich: eine Runde nach der anderen. Nachdenklich gehe ich vorüber, während mir die Konsequenzen der Energiewende für die ländliche Region in den Sinn kommen. Es gibt keine Alternative, das weiß ich, aber die Landschaft leidet unter wirtschafts- und energiepolitischen Notwendigkeiten.
Der nächste Ort heißt Bückwitz. Zuerst glaube ich, in der falschen Richtung unterwegs zu sein. Ein Schaukasten mit Ortsplan klärt mich auf: Es gibt einen Weg über Metzelthin nach Barsikow, der in Bückwitz abzweigt. Doch von einer alten Gärtnerin in Kittelschürze, die ihren Hausgarten für die Aussaat vorbereitet, erfahre ich, wie ich schneller nach Barsikow komme. Eine baumgesäumte Straße führt mich durch das verschlafene Bückwitz-Anbau, das nicht wirklich als Appendix an Bückwitz hängt. Als ich in die Straße einbiege, bellt irgendwo ein Hund, niemand Anderer weit und breit. Ein aufgegebenes Stellwerk am Straßenrand inmitten von Pflanzen, die lange nicht mehr gemäht wurden; früher vielleicht ein Bahnhof. Trotz des verwitterten Schriftzugs, dem einige Buchstaben fehlen, ist der Name Barsikow noch gut zu lesen. Gegenüber eine Bushaltestelle mit Schutzhütte. Ich bin durstig und müde. Ich bin zu schnell gegangen, mit zügigem Schritt, die Missempfindungen in Oberschenkeln und Hüften ignorierend, um den Asphalt der Straße hinter mir zu lassen. Der vierte Tag meiner Wanderung bringt mir die Mühen des Gehens und den Druck des Gepäcks noch einmal deutlich ins Bewusstsein. Zeit für ein Picknick an der Abzweigung nach Barsikow. Mein Poncho wartet weiter unbenutzt im Rucksack. Durch die treibenden Wolken bricht gelegentlich die Sonne. Trotzdem bin ich besser unterwegs, als ich mir vorgestellt habe. Trotz der Unhöflichkeit des Wetters und meiner mangelhaften Kondition denke ich nicht ans Aufgeben.

Nach Barsikow wandere ich auf der nächsten Landstraße, eine schnurgerade Allee, die an dem Recycling-Werk vorbeiführt, dessen Fuhrpark ich seit Stunden vorbeifahren sehe. In der Ferne beugen sich die Bäume der Allee von beiden Seiten aufeinander zu. Ich gehe in einem dunkelgrünen Tunnel, an dessen Ende sich ein Tor nach Barsikow öffnet. Weiße Flecken im Grün der Bäume lassen die ersten Häuser des Orts nur ahnen.
Ich bin müde, der Wind bläst mir kalt ins Gesicht, und ich friere noch immer. Mein T-Shirt ist nass vom Schweiß und trocknet nicht. Unter der Daunenjacke hüllt mich ein feuchter Film ein. Wind-Chill! Doch es bleibt trocken, kein Regen mehr. Es war richtig, nach Neuruppin zu fahren. Mit meinem wasserdichten Poncho im Gepäck hat der Regen es aufgegeben mir zuzusetzen. Ironie kann auch etwas Beglückendes haben, besonders in unangenehmen Momenten. Ich jedenfalls fühle mich dem Regen überlegen, der das inzwischen auch eingesehen hat.
Ein roter SEAT überholt mich auf dem Weg nach Barsikow. Die ländliche Atmosphäre, die wenig befahrene Straße und meine Müdigkeit haben etwas Meditatives. Nach Innen gekehrt gehe ich automatisch, dämmere vor mich hin und trotte immer langsamer geradeaus, ohne auf meine Umgebung zu achten. So bemerke ich auch nicht, dass der rote Wagen wendet. Erst als er neben mir hält, und mich der Fahrer anspricht, lande ich unsanft in der Wirklichkeit. "Wohin wollen Sie?" fragt er mich. "Haben Sie schon ein Quartier?" Ich erzähle ihm von einem Telefonat und meiner Reservierung im Kirchturm, worauf er mir Glück wünscht, wendet und beruhigt weiterfährt. Ein besorgter Barsikower kann sich wieder seinen eigenen Angelegenheiten widmen.
Endlich in Barsikow. Ein friedliches, beinahe vergessen wirkendes Dorf am Rand der Ökumene. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Keine Fußgänger, keine fahrenden, nur die vor den Häusern parkenden Autos. Ich stehe am Anfang einer geradeaus führenden Straße, die genau auf eine der kleinen, aus Feldsteinen errichteten Wehrkirchen zuläuft. Barsikow ist ein Angerdorf: An der Kirche gabelt sich die Straße und führt rechts und links an dem Platz vorbei, auf dem sich die Kirche erhebt. Sofort zieht der dreistöckige Turm, hinter dem sich das restliche Gebäude versteckt, meine Aufmerksamkeit an. Mein exklusives Quartier für die kommende Nacht. Die leicht erhöhte Kirche auf der Insel dominiert den Ort, wo sich die viel kleineren Häuser in ihrem Schatten ducken.
Gegenüber eine Bushaltestelle mit einem Unterstand, wo ich Rucksack und Stöcke endlich ablegen kann. Noch ist früher Nachmittag, doch ein Bus kommt heute nicht mehr. Den Namen und die Telefonnummer des Herbergsvaters finde ich in dem Schaukasten, der neben einem eisernen Tor an der Kirchenmauer hängt. Ein Mobilfunknetz gibt es in Barsikow nicht. Wieder bin ich allein, wie so häufig in den letzten Tagen, in einem scheinbar menschenleeren Ort. Nach meinen Erfahrungen auf Wanderungen in Brandenburg habe ich nicht erwartet, dass die Dörfer am mittelalterlichen Pilgerweg belebter sind. Die Jungen sind längst gegangen, die Alten harren in Haus und Garten aus, zu sehr mit sich selbst und der alten Zeit beschäftigt, um über Alternativen nachzudenken. Sie hängen an ihrer Heimat, die Wurzeln reichen tief. Sie haben sich entschieden, und ihre Sehnsüchte zur Ruhe gebracht. Die Hauptstraße liegt verlassen, und auch in den Nebenstraßen ist niemand zu sehen. Keine Kinder spielen vor den Häusern, und ich frage mich, ob überhaupt noch welche im Ort leben. Niemanden auf der Straße anzutreffen, ist ein merkwüdiges Gefühl. Bin ich schon so an das Gedränge in den Straßen von Berlin gewöhnt? Entnervt und ratlos setze ich mich an die Bushaltestelle und warte. Vielleicht traut sich doch noch ein Barsikower auf die Straße. In diesem Moment kommt ein alter Mann auf mich zu, der seine beiden Hunde spazieren führt. Promenadenmischungen alle beide; ein großer schwarzer, ein kleiner, mit schwarz-weiß geflecktem Fell, der problemlos in meinen Beutel Platz findet. "Er ist nur ein halber Rüde," vertraut mir der Alte an, "eine Dame." Still  für mich denke ich: kastriert.
Der Mann kennt den Herbergsvater, was mich in einem kleinen Dorf wie Barsikow nicht überrascht. Zuerst ist er misstrauisch, will mir die Adresse nicht sofort geben. Er weiß wo er wohnt, bietet mir schließlich an, mich zu begleiten. Ich hole den Rucksack aus dem Bushäuschen, schultere erneut mein Gepäck, und laufe mit meinem Führer und seinen beiden Hunden den Weg zurück an den Dorfeingang, wo eine Stichstraße in ein Miniatur-Neubaugebiet führt. Plötzlich sind auch andere Menschen auf der Straße und in den Gärten. War ich unaufmerksam und Barsikow nur deshalb leer? Das Haus, dass ich suche, ist das vorletzte auf der rechten Straßenseite.
Die Frau des Herbergsvaters, eine Matrone in den Fünfzigern, nimmt mich gleich für sich ein. Sie ist sichtbar erfreut mich zu sehen, lächelt mich an, und bittet mich ins Haus. Ich bin noch nicht ganz drinnen, da stürmt schon ein Hund auf mich zu, beschnüffelt mich, dreht Kreise um mich, rennt zurück in die Wohnung und bringt mir sein Lieblingsstofftier, dem er die eine oder andere Blessur zugefügt hat. "Das macht er sonst nie," meint die freundliche Frau. "Er mag Sie!" Und sie lächelt wieder, weil sie nicht weiß, dass ich als Stadtmensch an Hunde nicht gewöhnt bin. Ich mag sie höchstens aus der Distanz, finde sie interessant und bewundere ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten, besonders mit selbstbewusstem freiem Blick, wenn sie sich dem Menschen anschließen, sich ihm aber nicht völlig untergeordnet haben. Hunde, die in Häusern leben, vor allem in den Städten, bemitleide ich. Ich beachte sie meistens nicht, und habe nie verstanden, dass sie mich trotzdem mögen. Sie erzählt mir, dass sie und ihr Mann vor fünfzehn Jahren aus Berlin nach Barsikow zurückgezogen sind. "Heute ist er Rentner," fährt sie fort, "aber er ist noch viele Jahre mit dem Auto nach Berlin gefahren. Nur eine Stunde. Er hat da in der Behindertenhilfe gearbeitet." Beide fühlen sich im Dorf viel wohler als in einer Stadt. Die Hektik der Metropole habe ihnen zuletzt sehr zugesetzt. Doch ohne ein Auto geht von hier aus nichts. Zum Einkaufen, oder für alle weiteren Bedürfnisse, fahren sie nach Wusterhausen oder Kyritz, meist aber direkt nach Neuruppin. "Mein Mann arbeitet hinten im Garten," sagt sie. Sie geht ihn holen, als er auf ihr Rufen nicht erscheint.
Er ist eher klein, von schmaler Statur und mit dem grauen Haar des Seniors. An der untersten Treppenstufe stößt er sich die Erde von den Schuhen und wischt sich die Hände an den Hosenbeinen sauber. Bevor irgendetwas anderes möglich ist, und ohne meinen Small Talk mit seiner Frau zu beachten, fragt er mich: "Sie wollen doch bestimmt die Madonna von Barsikow sehen?" Er überrascht mich, denn ich habe von einer solchen noch nie gehört, doch ich nicke zustimmend als ich seine Begeisterung spüre.

Die Madonna von Barsikow

Die sitzende Madonna von Barsikow ist eine gotische Holzskulptur von außergewöhnlicher Ausstrahlung. Sieht man genauer hin, fallen Spuren einer ehemaligen, farbigen Bemalung auf. Wir gehen ein paar Straßen weiter, wo die gotische Madonna seit kurzem ein neues, vorläufiges Domizil gefunden hat. "Die Statue befand sich jahrelang in Segeletz," erzählt mir ihr Behüter, "aber sie gehört hierher." Unter Protest der Segeletzer wurde sie schließlich auf Anordnung des Presbyteriums zurück nach Hause geholt. "In der Kirche," fährt der Herbergsvater von Barsikow fort, "ist sie nicht sicher, deshalb wird sie snderswo aufbewahrt." Gegen Diebstahl gesichert natürlich, mit Video und Alarmsirene. Eine Überwachungsleitung führt direkt zur nächsten Polizeiwache. Zwischen all dem Untergestelltem und Alltagsgegenständen darf ich die Madonna nicht fotografieren. Dies ist würdelos, meint ihr Beschützer. Doch mir gefällt die Atmosphäre, in die sie sich zurückgezogen hat, bildet sie doch den angemessenen Hintergrund für das Versteck einer Madonna, die sich öffentlich nicht zeigen darf. Wunder sind keine Dienstleistung, und kommen heutzutage auch nicht mehr vor. Wunderbares sehe ich täglich auf diesem Pilgerweg, aber mit Metaphysik haben sie nichts zu tun.
Für ein Foto drapieren die beiden Schutzengel der Barsikower Madonna ihren Schützling auf einem weißem Tuch in einem Nebenraum. Vor der Kachelwand des Raums wirkt die Madonna mit ihrem Sohn verloren, wie aus dem Leben gehoben.

Nachdem dieser erste Programmpunkt der Barsikower Pilgeretikette absolviert ist, begleitet mich der Behüter der Madonna zu meinem Quartier. Auf dem Weg dorthin ist die Dorfstraße belebt. Meine Ankunft hat sich herumgesprochen, und die Neugierigen hinausgelockt. Alle wollen sehen, wer da angekommen ist.
Die gotische Feldsteinkirche in Barsikow stammt vermutlich aus dem 14. Jahrhundert. Im Turm befindet sich ein vollständiges Geläut aus der Pilgerzeit, dass auf 1513 datiert wird. In dieser Zeit stand die Kirche unter dem Patronat des Zisterzienserinnenklosters Zehdenik. Wie diese Beziehung zustande kam, ist nicht bekannt, da das Archiv des Klosters 1801 bei einem Stadtbrand zerstört wurde. Die bedeutenden Glocken der Barsikower Kirche wurden dem Dorf allerdings von dem wohlhabenden Zehdeniker Kloster geschenkt.
Im Kirchturm hat die Kirchengemeinde, dessen Vorstand der Herbergsvater ist, in zwei Etagen eine Pilgerherberge eingerichtet. Der Eingangsbereich wird, ähnlich wie in Flatow, in den kalten Monaten als Winterkirche genutzt, da er beheizbar ist. An der Wand neben der Treppe zum Turm hängt eine Tafel, auf die er mich stolz hinweist. Er erzählt, dass die Kirchengemeinde finanzielle Mittel aus dem Europäischen Landwirtschaftsfond für die Entwicklung des ländlichen Raums bekommen hat. Auf der zweigeteilten Tafel ist zu lesen: Hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete: Einbau einer Pilgerherberge im Kirchturm der Barsikower Kirche sowie Hier investiert Europa in die ländlichen Gebiete: Sanierung des Kirchenschiffes der Barsikower Kirche. 46 % der EU-Fördermittel hat die Pilgerherberge ermöglicht, die restlichen 54 % wurden in die Sanierung der Kirche investiert, vor allem in das marode Dach und in die aus Eichenbalken bestehende Zwischendecke.
Über die alte Holztreppe gehen wir in die erste Etage des Turms, die mit vier Betten, einem Tisch und mehreren Stühlen ausgestattet ist. Mein Bett, bereits frisch bezogen, steht in einer Nische unter einem Halbbogen. In der zweiten Turmebene der Herberge stehen mehrere Etagenbetten sowie Tische und Stühle. Links von meinem Bett führt eine neue Stahltür unter einem zweiten steinernen Bogen auf die Galerie mit der Orgel. Von dort bietet sich ein guter Überblick über das Kirchenschiff und auf ein schönes, bleiverglastes Spitzbogenfenster über dem Altar. Die sinkende Sonne schickt ihre letzten Strahlen in die dunkle, feuchtkalte Kirche, in deren Gemäuer der kaum vergangene Winter noch Quartier hält. In der Spitze des Fensters thront der alte Landadel, dem einst Land und Kirche gehörte: links oben im Fenster das Wappen derer von Zieten mit Eichenlaub und Ziegenbock, rechts daneben das derer von Kriegsheim mit Schwertarm, Ähren und Lilie. Im Erdgeschoss des Turms, gleich neben dem Eingang in die Kirche, gibt es eine kleine Einbauküche, Dusche und Toilette. So früh im Jahr bin ich erst der vierte Pilger. Gestern hat ein junges Paar, auch aus Fehrbellin kommend, im Turm übernachtet. Im Gästebuch lese ich: Nass und kalt war es auf dem Weg hierher. Ob die beiden, anders als ich, keinen Regen scheuen, oder sie regensichere Kleidung hatten?
Nachdem ich den Rucksack auf einem Stuhl abgelegt habe, folgt Programmpunkt zwei; die Kirchenführung. Als Kirchenvorstand, Herbergsvater und Behüter der Madonna kennt er sich in der Kirchengeschichte Barsikows gut aus. Stolz und fachkundig, detailliert und kenntnisreich, referiert er aus der mittelalterlichen und neueren Geschichte seiner Gemeinde.

Die mittelalterlichen Glocken von Barsikow

Das besondere Highlight der kleinen Kirche sind die drei Glocken in der obersten Etage des Turms, zu denen wir über schmale Treppen hinaufsteigen. Ich muss wohl kurz erwähnt haben, dass ich aus Aachen stamme. Ehrfürchtig zeigt er mir das Aachener Pilgerzeichen auf der großen Glocke, die im Gestühl zwischen den beiden kleineren hängt. Erneut werde ich an die Heilig-Jahr-Wallfahrt nach Aachen erinnert, die sich durch das Pilgerzeichen für mich plötzlich mit der Wilsnack-Pilgerschaft verbindet.
Die drei Glocken im Barsikower Kirchturm erzählen eine historisch und kunstgeschichtlich spannende Geschichte. Besonders das seltene Pilgerzeichen auf der großen Glocke bezeugt die einstige Bedeutung Barsikows am Pilgerweg nach Wilsnack. 1882 verfasste der damalige Pfarrer Gottlieb Wilhelm Schinkel für die Barsikower Nachrichten, eine historische Abhandlung über das Dorf anlässlich des 50. Pfarramtsjubiläums. In seinem Bericht geht er ausführlich auf die drei Glocken ein, die auch heute noch im Barsikower Kirchturm hängen. Die Glocken, schreibt er, stammen aus dem Jahr 1513, also noch aus der katholischen Zeit. Zwei der Glocken belegen seine Angaben. Die größte Glocke besitzt am oberen Rand eine lateinische Umschrift: Im Jahre des Herrn 1513: Hilf heilige Mutter, Sankta Anna, selb dritte ist Maria Anna. O Himmelskönig Christe komm mit Frieden. Die Umschrift der kleinen Glocke enthält ein genaues Datum: Im Jahre des Herrn Dusem (Tausend) 500 und 13 des Donnerstages nach dem Andreastage. Die mittlere Glocke besitzt keine Umschrift, soll aber, wie Pfarrer Schinkel vermutet, zur gleichen Zeit entstanden sein. Am Hals ist sie mit sechs fein gearbeiteten Medaillons mit Motiven aus dem Leben Jesu verziert: Christi Geburt, Verkündigung, Geißelung, Kreuztragung, Kreuzigung und Auferstehung. Aus der Inschrift der großen Glocke schlussfolgert er auch, dass jede der Glocken einen Eigennamen besitzt. Die große Glocke, vermutet er, heißt Mutter Maria, die mittlere Heilige Anna und die kleine Maria Anna. Die Interpretation des Pfarrers hat sich nicht bestätigt. Die Forschungen von Cornelia Oefelein, die sich eingehend mit den Pilgerzeichen der Barsikower Glocken beschäftigt hat, korrigierten die Angaben von Pfarrer Schinkel, der sich hinsichtlich des Medaillonbilds und der Namen der Glocken geirrt hat. Richtig ist aber, dass die große Glocke der Heiligen Anna selbdritt gewidmet ist, wie ihre Inschrift belegt: help hilge moder sunte, anna sulf drudde. ihs. maria, anna. Bilder und Skulpturen des 15. und 16. Jahrhunderts, die die Heilige Anna mit ihrer Tochter Maria und dem Jesuskind zeigen, nannte man in dieser Zeit Anna selbdritt. Es ist durchaus möglich, dass nur die große und die kleinere Glocke 1513 gegossen und geschenkt wurden. Die mittlere Glocke ist wohl älter und ursprünglich die erste im Turm, wofür die Signatur eines noch unbekannten Gießers spricht. Bevor sie nach Barsikow kam, könnte sie in einer anderen Kirche gehangen haben. "Die Recherchen," ergänzt der Herbergsvater, "sind noch nicht abgeschlossen. Bisher konnte die Identität des anonymen Gießers und der Ursprung der Glocke noch nicht aufgeklärt werden."

Bevor ich nach Barsikow kam, wusste ich nichts von Pilgerzeichen und ihre Präsenz auf mittelalterlichen Kirchenglocken. Ich war augenblicklich Feuer und Flamme für die Geschichten, die diese Marker überliefern. Der Kirchenvorstand ist ein guter Erzähler und sein Stegreifvortrag über spätmittelalterliche Kirchengeschichte und Heilsideologie in dem engen Glockenturm von Barsikow an diesem Nachmittag ist es wert, aufbewahrt zu werden

Die Barsikower Pilgerzeichen

Pilgerzeichen sind Embleme. Sie sind Sinnbilder eines gemeinsamen Glauben und materialisierter Ausdruck des Heilversprechens des Pilgerwegs. Bildzeichen, wie die auf den Barsikower Glocken angebrachten und im Kirchturm verborgenen, gehören zu den bedeutendsten Spuren der mitteleuropäischen Pilgertradition. Kirchenglocken waren in Kriegszeiten immer gefährdet zu Kanonen umgegossen zu werden, beschädigte Glocken wurden eingeschmolzen, neu gegossen oder durch neue Glocken ersetzt. 1917 erschien in der Mai-Ausgabe der Heimatglocken, einer Zeitschrift für die Soldaten im Feld, ein Artikel des Pfarrers Achilles, in dem er von der bevorstehenden Einberufung unserer mittleren Glocke zum Kriegsdienst berichtet. Im Juli des selben Jahres wurde die 265 Kilogramm schwere Glocke ausgebaut, und am folgenden Mittwoch zum Bahnhof und Weitertransport nach Neuruppin gebracht. Während des Ersten Weltkriegs waren Kirchenglocken als Rohstofflieferanten für Kanonen sehr begehrt. Aus unbekannten Gründen entging die mittlere der Barsikower Glocken der Einschmelzung und kam im April 1920 zurück nach Barsikow.
Von den einst viel zahlreicheren und weit verbreiteten Pilgerzeichen blieben durch diese Praxis nur relativ wenige erhalten. In der katholischen Überzeugung ist die Kirchenglocke nicht nur ein materielles Ausstattungsobjekt der Kirche, sondern sie gilt als die Stimme Gottes, die die Macht des Bösen bricht und den Menschen Segen bringt. Im Mittelalter wurden die Glocken auch mit der Stimme des Predigers des Evangeliums gleichgesetzt. Der ideale Platz um Pilgerzeichen zu integrieren: das Medium ist die Botschaft. Als sakrales Instrument versah man Kirchenglocken schon sehr früh mit Ornamenten religiösen Inhalts. Rainer und Cornelia Oefelein fassen in der Einführung ihres Pilgerführers den üblichen Glockenschmuck zusammen: Darstellungen von Heiligenfiguren, Kirchenpatrone, Reliefs mit Motiven aus dem Leben und der Passion Jesu, vor allem Bildnisse Mariens mit dem Kind und Christus am Kreuz, sowie andere religiöse Symbole wie große ornamentale, griechische Α und Ω und natürlich Kreuze in allen Formen.
Pilgerzeichen nahmen im Verlauf im Glockenschmuck eine besondere Stellung ein. Diese Zeichen, die die Pilger an den Wallfahrtsorten erwarben, waren nicht nur Souvernirs, sie waren heilige Gegenstände, die die besuchten und verehrten Reliquien repräsentierten. Als Berührungsreliquien dienten sie als Stellvertreter und wurden von den Pilgern mit zurück nach Hause genommen. Dort wurden sie der heimischen Kirchengemeinde gespendet, die sie in ihre Glocken goss. Mit dem so magisch aufgeladenen Klang der Glocke wurde die Heilswirkung der Stellvertreter-Reliquie über die Gemeinde und das ganze Land ausgeschüttet, sodass alle Gläubigen an dem Heil der Pilgerfahrt teilnehmen konnten. Es sind diese Pilgerzeichen mit deren Hilfe der Pilgerweg von Berlin nach Wilsnack rekonstruiert werden konnte.

Auf der großen Glocke in Barsikow haben sich als Glockenschmuck zwei dieser seltenen Pilgerzeichen aus dem 15. und 16. Jahrhundert erhalten. Die ständig zunehmenden Pilgerscharen an den berühmten, großen Wallfahrtsorten führte zur Entstehung sogenannter Spiegelzeichen, die durch die ihnen verliehene Fähigkeit zur Reflexion die heilbringende Wirkung der Reliquie einfangen sollten. Solche Spiegelzeichen sind in großer Zahl für Aachen belegt, wozu auch eins der Pilgerzeichen auf der großen Glocke von Barsikow gehört, gegossen 1513, drei Jahre nach der großen Aachenfahrt von 1510. Das Aachener Spiegelzeichen der Barsikower Glocke besteht aus drei unterschiedlich großen, übereinander angeordneten Kreisen. Im unteren, größten Kreis stellt das Zeichen die Beweinung Christi dar. Der obere, etwas kleinere Kreis zeigt die Reliquie, das Mariengewand, wie für die Aachener Heiligtumsfahrten üblich. Zwei Priester halten das an einer Stange aufgehängte und ausgebreitete Gewand für die Pilger gut sichtbar in die Höhe. In dem kleinen, mittleren Kreis befand sich der Spiegel um das Heil einzufangen.

Das Sternberger Wunderblut

Das kleine Pilgerzeichen auf der großen Glocke von Barsikow stammt aus Sternberg in Mecklenburg, und stellt eine Monstranz mit zwei Hostien dar, gekrönt von Kreuzen und Fialen. Jede Hostie wird von zwei Engeln hochgehalten. Auf der linken Hostie ist der auferstandene, auf der rechten der gekreuzigte Jesus dargestellt.
Das Sternberger Pilgerzeichen in Barsikow gehört in die Reihe der Heilig-Blut-Wallfahrten, die durch eine angebliche Hostienschändung durch Juden ausgelöst wurden. Eine Legende überliefert den Raub zweier geweihter Hostien, die ein Priester 1492 einem Juden gegeben haben soll. Dieser wollte wissen, ob es sich bei ihnen wirklich um den Leib Christi handelt. Als besagter Jude mit einem Messer auf die Hostien eingestochen hat, begannen sie zu bluten. In der Folge dieses Blutwunders wurden in Mecklenburg 27 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt; weitere 265 Juden wurden des Landes verwiesen und der Priester exkommuniziert und ebenfalls verbrannt. Gleichzeitig setzte ein Pilgerstrom ein. An die Sternberger Kirche wurde eine Heilig-Blut-Kapelle angebaut, die 1496 eingeweiht wurde. 1520 polemisierte Luther gegen Wallfahrtstätten wie Wilsnack und Sternberg, worauf die Wallfahrten nach Sternberg schon 1533 eingestellt wurden.

"Die kleine Glocke," fügt der Herbergsvater noch hinzu, "war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Feierabendglocke." Sie wurde täglich um sechs Uhr geläutet. Durch die Zunahme von mechanischen Taschenuhren und Armbanduhren ging dieser Brauch schließlich verloren. Mittlerweile werden die Glocken durch ein elektrisches Uhrwerk betrieben, die Zeiten sind programmiert. Niemand muss die Glocken mehr mit einem Seil in Schwingung versetzen um ihnen ihren Klang zu entlocken. Es ist diese Glocke, deren Umschrift das Datum 1513 aufweist, das für die Datierung von Kirche und Glockenguss verantwortlich ist.
Unter dem DDR-Regime verfiel die Kirche immer mehr. Besonders die Holzbalken und die tragende Konstruktion der Decke verrotteten in diesen Jahrzehnten. In den vergangenen Jahren haben Zimmerleute die Holzbalken der Decke erneuert, indem sie bewahrten, was noch nicht zu morsch war. Geschickt haben sie in die schweren Eichenbalken neue Balkensegmente integriert, sodass jeder einzelne Holzbalken nun aus neuem und alten Holz zusammengesetzt ist. Viel schwieriger und finanziell aufwändiger erwies sich die Restaurierung des großen bleiverglasten Fensters über dem Chorraum. Es war nicht einfach, einen kompetenten Restaurator zu begeistern. Die Umwandlung der Fenster im Seitenschiff, vergrößert und mit modernem Design bleiverglast, hat der Denkmalschutz lange blockiert. Einst war die Kirche eine Wehrkirche und große Fenster boten keinen Schutz. Lange wurde die Frage diskutiert, ob die kleinen Schießscharten, die ursprünglichen Fenster, die nur wenig Licht in den Innenraum einließen, erhalten bleiben müssen. Schließlich einigte man sich auf einen eigenartigen Kompromiss: Zwischen die neuen Fenster wurde jeweils eins der sehr schmalen, alten Fenster erhalten, zugemauert, und ist nur noch von innen sichtbar. Die Kirche ist der ganze Stolz des Herbergsvaters. Ihre Betreuung und die Pilgerherberge sind sein Lebenswerk. Nun Rentner widmet er sich der Herberge und den Angelegenheiten der Gemeinde und des Kirchenjahrs. Einmal jährlich nimmt er immer noch an einem Radparcours durch die Prignitz teil. Er sei gerne Herbergsvater und von seiner neuen Aufgabe überzeugt. Über siebzig Pilger habe er im letzten Jahr kennengelernt. Begeistert redet er immer weiter. Dabei verliert er sich immer mehr in Details, merkt dabei nicht, dass meine Aufmerksamkeit allmählich nachlässt. Nicht das seine Anekdoten und historischen Daten mich nicht fesseln, ich bin einfach zu müde. Es ist leicht zu verstehen, warum sich die EU in Barsikow finanziell engagiert hat. Die Restaurierung des Glockenraums, des Dachstuhls und der Decke der Kirche sowie die Einrichtung einer Pilgerherberge reflektieren europäische Kulturgeschichte und sind ein wahrhaft europäisches Anliegen. Die Sanierungsarbeiten an der Kirche in Barsikow haben 500 000 Euro verschlungen.
Warm eingepackt, ein schnelles Abendbrot am Tisch zwischen meinen ausgepackten Habseligkeiten. Heißes Wasser für den Tee hole ich mir unten aus der Kochnische. Allein im Turm rückt mir die Winterkälte in den Mauern unter die Haut. Eine Heizung gibt es nicht, und um heiß zu duschen bin ich zu müde. Also krieche ich in den Schlafsack, damit mir warm wird. Um 18 Uhr läuten die Barsikower Glocken trotzdem den Tag aus. Mir ist warm geworden und ich fühle mich erholt. Durch das nach Südwesten ausgerichtete Turmfenster scheint die Abendsonne in den Raum, die mich aus dem Schlafsack hinaus ins Freie lockt. Im kalten, böigen Wind schlendere ich durch den Ort, umrunde die Kirche, und laufe die wieder leere Hauptstraße auf und ab. Hinter der Kirche finde ich den Pilgerweg, der mich morgen weiter nach Wusterhausen führt. Schließlich treibt mich der Wind zurück in den Turm. Er weht so kalt, dass er die Wärme der späten Sonne verweht.

Der Pilgerweg nach Wilsnack

Die meisten der mittelalterlichen Pilger gingen zu Fuß. Nur wer es sich leisten konnte, reiste komfortabler: zu Pferd, in der Kutsche oder mit dem Schiff. Die Lage von Wilsnack an einer bedeutenden Handelsstraße, die von Lübeck aus über Schwerin, Perleberg nach Wilsnack und von dort weiter über Rathenow und Brandenburg nach Wittenberg führte, sicherte eine gute Erreichbarkeit. Die Hamburgische Poststraße nach Berlin kreuzte ebenfalls den Pilgerweg nach Wilsnack. An der Fähre bei Lenzen über die Elbe folgte er dem Fluss nach Wittenberg und weiter nach Wilsnack. Weiter nach Süden führte der Weg nach Werben. Von dort ging es weiter mit der Fähre über die Elbe nach Tangermünde, wo die Pilger auf die Straße nach Erfurt oder nach Braunschweig trafen. Dort fanden sie den Anschluss an das intereuropäische Jakobswegenetz.
An den Wegen, die die Pilger nahmen, etablierten sich im Lauf der Jahre sogenannte Transitheiligtümer, die den Pilgern die Möglichkeit zu innerer Einkehr boten, zu Meditation und Besinnung, aber auch um verschiedene Heilige um Hilfe und Unterstützung für ihre Pilgerfahrt anzurufen. Bedeutend sind die Marienklause bei Tangermünde, die Johanniterkirche in Werben, die Heilig-Blut-Kapelle des Klosters Heiligengrabe sowie die Annenkirche von Alt-Krüssow.
Es waren unsichere Zeiten, in denen die Pilger unterwegs waren, sodass himmlicher Beistand mehr als erforderlich war. Straßenräuber nahmen den Pilgern nicht nur ihren Besitz, sondern oft auch ihr Leben. Verarmte Adelige vergriffen sich an wohlhabenden Pilgern, nahmen sie als Geiseln in regionalen politischen Konflikten oder erpressten Lösegelder. In diesem Milieu garantierten die Miniatur-Metallgüsse, die Pilgerzeichen, die ein Pilger an Hut oder Mantel trug, einen gewissen Schutz. Diese Markierungen waren der sichtbare Ausdruck der religiösen Motive seiner Fußwanderung. Pilgerherbergen zum Schutz in der Nacht richteten die Kirchen und Klöster erst seit dem 11. Jahrhundert an den Pilgerwegen ein.

Einst glaubte ich, dass es keinen Unterschied für mich macht, ob ich in äußern Welten und Kulturen oder in psychischen Innenwelten reise. Damals war ich noch Ethnologe, und dabei mich neu zu erfinden. Mein Sohn war gerade geboren und zwei Kinder riefen mich in die Verantwortung. So machte ich mich zum Therapeuten. Ich tröstete mich mit der Illusion, das es keinen Unterschied macht, mich in den Biographien anderer zu bewegen wie in einer fremden Kultur. Der sozialtherapeutische Alltag, den ich fand, war ernüchternd. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich geglaubt hatte, ich kann der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den nur die Fantasie gewährt. Oder die Fremde! Zwanzig Jahre lang habe ich mich im Leben anderer herumgetrieben und mir dabei mein Leben vertrieben. Vertrieben, im Wortsinn, und solange, bis ich vom Leid und Schmerz meiner Mitmenschen infiziert war, denen ich nur für eine gewisse Zeit helfen konnte, bevor ihre Krankheit wieder ausbrach. Meine Welt ist, wie sie ist. Wenn ich mich einmische, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn ich nicht Derselbe bleibe. Wer sich in diesen vielen Jahren verändert hat, bin ich selbst. Für die anderen habe ich Brände gelöscht, die kurze Zeit später neue Nahrung fanden und erneut aufflammten. Jedes Mal blieb Glut in der Asche zurück. Es gibt Dinge im Leben, die lassen sich nicht beeinflussen. Oder nur unter großen Entbehrungen, wozu selten jemand bereit war.
Eine Fußreise öffnet mir die Möglichkeit, Routinen zu beenden, langsam und Schritt für Schritt, sowie Rhythmen und Gewohnheiten zu flexibilisieren und neu zu gestalten. Das Glück einer Reise liegt darin, sich vom Gewohnten zu entfernen und auch das zuhause Zurückgelassene nach der Rückkehr fremd und neu zu entdecken. Dieser Prozess erlaubt es mir, mich noch einmal neu zu erfinden, meine Identität meinen veränderten Bedürfnissen und Bedingungen anzupassen. Je langsamer ich diese Bewegung vollziehe, desto intensiver gelingen mir Gestaltung und Veränderung, desto schöner lebe ich zukünftigen Begebenheiten entgegen. Entschleunigung, Liminalität und Integration fördern die subversive Qualität einer Fußreise. Wieder wild werden, sterben und irgendwo anders neu ankommen. Ein Initiationsritual unmittelbar vor der Haustüre. Pilgern, tage- oder wochenlanges Wandern, entfaltet eine therapeutische und spirituelle Dimension. Pilgern verändert und entwickelt die eigene Persönlichkeit. Es ist nicht möglich, von einer Pilgerfahrt unverändert heimzukehren. Wer das glaubt, der irrt. Aus all diesen Gründen gehe ich!

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