Sonntag, 27. März 2016

Ein missglückter Aufbruch


Aufbruch. Ein Anfang. Eine Wiedergeburt. Ich habe den heutigen Tag bewusst für meinen Aufbruch gewählt. Es ist Ostersonntag. Die Christen feiern die Auferstehung des Gottessohns von den Toten, unsere heidnischen Vorfahren einst das Erwachen der Natur. Mir ist bewusst, dass ich aufbrechen muss. Um was zu finden? Ostern ist das Fest der Wiedergeburt, der Auferstehung. Wie ich es auch betrachte: Es ist eine Auferstehung, eine Wiedergeburt.
Und es ist Frühling, trotz des böigen Windes. Das Leben erwacht für ein neues Jahr und ich beginne einen neuen Lebensabschnitt. Der Wind bläst in schnell aufeinanderfolgenden Böen. Und er ist kalt. Ein blauer Himmel mit Sonne hat mich am Morgen verführt, und nun bin ich zu dünn angezogen. Der Tag ist trocken, aber die für den heutigen Ostersonntag versprochene Sonnenwärme fehlt.  Inzwischen ist der Himmel zugezogen und die Luft so kalt, dass ich die Wärme der Sonne nicht mehr spüre, die der Wind schnell verbläst. Dunkle Regenwolken ziehen auf und sperren die Sonne ist aus.


Ein Berliner Totentanz

Der brandenburgische Pilgerweg beginnt an der evangelischen Marienkirche, an der Karl-Liebknecht-Straße, in der Mitte von Berlin. Die erste urkundliche Erwähnung als Pfarrkirche (als ecclesia St. Marie virginis) stammt aus dem Jahr 1292. Die Grundmauern der Kirche mit ihrem 48 Meter hohen Turm wurden aus Feldsteinen erbaut, über die man eine Hallenkirche der märkischen Backsteingotik errichtet hat. Die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg führten zu einer großflächigen Umgestaltung des Berliner Stadtkerns. Im Zuge der Neugestaltung des Alexanderplatzes restaurierte die DDR-Administration die Marienkirche in den Jahren 1969 und 1970. Danach befand sich die Kirche in einer völlig veränderten baulichen Situation wieder. Bis 1945 beherrschte sie den eng bebauten Neuen Markt, wo sich inzwischen der ausgedehnte Alexanderplatz befindet. Als Solitärgebäude erinnert sie den Berliner und den Besucher daran, dass er sich im historischen Stadtkern von Berlin befindet. Heute ist die Marienkirche die älteste noch sakral genutzte städtische Pfarrkirche Berlins im einst dicht bebauten, nun verschwundenen Marienviertel. In ihrer Altertümlichkeit wirkt die Kirche inmitten der Modernität am Fuß des Alexanderplatzes wie ein von der Geschichte absichtlich zurückgelassenes Gebäude. Ein Mahnmal, dass es hier einmal anders war. Einsam steht der Bau zwischen Bürogebäuden und Konsumtempeln und erinnert an eine Zeit anderer Werte. In ihrer exponierten Position war mir die Kirche lange bevor ich von dem Pilgerweg nach Wilsnack gehört hatte, bereits vertraut. Als ich sie zum ersten Mal sah, konkurrierte ihr reich verzierter, patinageschmückter Turm mit der Nacktheit des höheren Fernsehturms, der genau hinter ihr aufragt, und ihr die ehemalige Dominanz streitig macht. Außer ihr ist nur noch die 1380 erbaute Heilig-Geist-Kapelle an der Spandauer Straße erhalten. Sie war Teil des Heilig-Geist-Spitals, das im Mittelalter an der Stadtbefestigung am Spandauer Tor stand, auch Ort für die physischen und spirituellen Bedürfnisse der Pilger. Andere Spuren der Pilgerzeit blieben in Berlin nicht erhalten.
Die Marienkirche markiert den Beginn des brandenburgischen Pilgerwegs, der von hier aus fast zwanzig Kilometer durch die Stadt nach Hennigsdorf führt, und erst dort der Urbanität entkommt. In der Pilgerzeit mag die Marienkirche ein Sammelplatz für die aus dem Norden und Osten Europas pilgernden Menschen gewesen sein, die hier Energie und Segen für die vielleicht letzte Etappe des Wegs nach Wilsnack gefunden haben.
Ein schlecht erhaltenes, aber seltenes mittelalterliches Denkmal von besonderer kulturhistorischer Bedeutung ist das Totentanzfresko in der Turmhalle der Marienkirche aus dem Pestjahr 1484, entstanden hundert Jahre nach dem Fund der Wunderblut-Reliquie in Wilsnack. Der Totentanz (danse macabre) ist eine im 14. Jahrhundert entstandene allegorische Bilderreihe von der Macht des Todes über das irdische Leben, die die Motive des Tanzes, als Symbol des Lebens, mit der Zäsur des Todes verbindet. Den Ursprung dieses Phänomens bilden szenische Aufführungen des Todes mit vierundzwanzig in absteigender Rangfolge angeordneten Personen, die seit 1442 in Paris an Kirchen- und Klostermauern gemalt wurden. Nicht viel später entstanden Totentanz-Malereien als Teppich- und Steinbilder in den Kirchen von Amien, Angers, Dijon und Rouen sowie Holzschnitte und Drucke. In Deutschland wurde das Totentanzmotiv mit wechselnden Bildern und Versen in der Wand- und Buchmalerei realisiert. In einer Kapelle der Marienkirche in Lübeck ist ein Totentanz erhalten, der den Tanz des Todes mit Geistlichen und Laien zeigt. Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal und König bis zu Klausner, Bauer, Jüngling, Jungfrau und Kind halten sich an den Händen und tanzen mit dem Tod, der pfeifend einen Reigen anführt. Das zweiundzwanzig Meter lange und zwei Meter hohe Totentanzfresko in der Turmhalle der Marienkirche ist einer der größten bekannten Totentänze. Es zeigt einen vergleichbaren Tanz wie den in Lübeck, auf dessen Modell er wahrscheinlich zurückgeht, nur dass Gevatter Tod in Berlin einen Schreittanz mit jeweils einer Person tanzt und eine Kreuzigungsszene die Tanzenden trennt. Den Reigen eröffnet der Franziskanermönch, der das Fresko gemalt haben soll, und dessen Weltbild auch die Verse dominiert, die er seinem Werk mitgegeben hat. Das Zentrum der Darstellung überliefert nämlich die älteste Berliner Dichtung. Die Verse, die den Totentanz begleiten, enthalten die Bitten der Tanzenden an den Tod, er möge sie verschonen. Nach der Reformation wurde der Totentanz mit einer Kalkschicht bedeckt und erst 1861 wieder freigelegt.

Ich habe lange gezögert, ehe ich mich entschieden habe, meine Fußreise nicht an der Marienkirche zu beginnen. Die starke Aura der Andersartigkeit, die die Kirche am Alexanderplatz umgibt, ihre historische Autorität, erscheint mir immer noch der richtige Ort für den Beginn des Wegs nach Wilsnack zu sein, ganz besonders wegen des dort erhaltenen Totentanzfreskos, dass auf einen anderen Übergang verweist. Doch ich scheue die zwanzig Kilometer lange Straße, den auf dieser an mir vorbei fließenden Verkehr, die Abgase und den Asphalt. Ich will meine Fußreise nicht mitten in meinem Berliner Alltag beginnen, sondern diesen so schnell wie möglich hinter mir lassen. An eine Bußreise habe ich bei meiner Pilgerfahrt nicht gedacht.

Vom S-Bahnhof Hennigsdorf gehe ich durch die am frühen Ostermorgen noch leere Havelpassage, in der sich auf beiden Seiten Läden und Büros reihen, für die sich heute niemand interessiert. Heute ist Ostern, Konsum und Einkauf waren gestern. Die Gedanken der meisten Menschen gehen an diesem Morgen in eine andere Richtung. Ich überquere den Havelplatz. Eine kleine Ecke des gepflasterten Platzes liegt in der Morgensonne, wo auf zwei Bänken Männer sitzen und das erste Bier des Tages trinken. Jenseits der Fontanestraße tauche ich in den Stadtpark ein, der weiter nördlich ins Berliner Umland übergehen wird.
Auf vier Beinen eile ich frierend durch den Park, in der Hoffnung, dass mir wärmer wird. Meine Füße sind mit den Stöcken im Takt. Gleichmäßig gehe ich vorwärts und fühle, wie meine Schritte meinen Rhythmus auf den Weg klopfen. Noch fühlt sich alles gut und richtig an. Zwei parallele Wege führen aus der Titularstadt Hennigsdorf hinaus. Ein asphaltierter Radweg und eine von Reifenprofilen zerfurchte Piste, vom Radweg durch eine Grasnarbe getrennt. Früher war Hennigsdorf eine richtige Stadt, doch als sich die demographischen Merkmale des Stadtkonzepts änderten, verlor der Ort, nunmehr ein Anhängsel von Berlin, diesen Status. Der Hennigsdorfer Stadtpark geht links von mir in einen ausgedehnten Friedhof über, auf dem sich heute nur wenige Besucher zu ihren Verstorbenen gesellt haben. Durch einen schütteren Waldstreifen führt der Bötzower Weg hinaus ins Offene.
Der Bötzower Weg ist eine Piste auf der es immer geradeaus geht. Er entzieht sich erst weit entfernt in einer Linkskurve meinem Blick. Ich komme an einem Meilenstein vorbei, der von der ehemaligen Alten Poststraße übrig geblieben ist, auf der Briefe von Berlin nach Hamburg befördert wurden. Ein Miniatur-Obelisk auf einem Sockel, etwas größer als ich selbst. Nach einigen hundert Metern führt der Weg auf einer schmalen Brücke über einen der vielen Entwässerungsgräben, die für die brandenburgische Luchlandschaft charakteristisch sind, ein Wirtschaftsweg zwischen Feldern und Weiden. Den Horizont begrenzt die L 20, die auf einer anderen Brücke eine Trasse der Eisenbahn kreuzt, die wie ein Damm die Landschaft teilt. Die Landstraße ist eine Allee, die zwischen Wiesen und Feldern verläuft, die selbst heute für die Aussaat vorbereitet werden. Keine Pferde grasen auf den Weiden, obwohl in Bötzow 300 Pferde leben sollen. Die umgebrochenen Erdschollen der Felder, die so früh im Jahr noch brachliegen, duften in der feuchten Luft feucht und erdig.

Auf einem der letzten Bäume des Wäldchen, direkt hinter dem Wassergraben, sehe ich zum ersten Mal die drei gelben Punkte, die den Pilgerweg nach Wilsnack markieren. Das Symbol der Wunderbluthostien, die an die ursprüngliche Tradition des Weges anknüpft. Erinnerungskultur in der brandenburgischen Landschaft. Die drei gelben Kreise werden mich während der kommenden Tage nicht mehr verlassen. Der gelbe Pfeil unter ihnen, weist mir die Richtung, nach links, nach Bötzow, der ersten Etappe des Wegs. Einige Schritte weiter wartet der nächste Meilenstein der Alten Poststraße im Schatten der letzten Bäume. Kaum stehe ich ungeschützt im Freien, empfängt mich eine kalte Böe, die jetzt auch Regentropfen im Gepäck hat. Da ich keinen Regenschutz bei mir habe, hält sich der Regen respektvoll zurück. Auf dem Weg liegt eine tote Raupe, die nun kein Schmetterling mehr wird. Viel zu früh hat sie sich, verlockt vom morgendlichen Sonnenschein, auf den Weg gemacht. Soll ich dabei an ein schlechtes Omen denken? Doch nur ein paar Schritte später arbeitet ein Ameisenvolk emsig daran, ihren Bau für das Frühjahr vorzubereiten. Arbeiterinnen schleppen die Raupe zum Bau, ein Festmahl für ihre Königin.
An der Brücke über die L 60 klettere ich an einer Seite hoch auf die Landstraße, auf der gegenüberliegenden Seite gleich wieder hinab, da mir nicht nach Straße und Autoverkehr zumute ist. Die Böschung führt steil bergab, auf einen einladenden, sandigen Weg, der an einer Koppel mit zwei Pferden vorüberführt. Ein Mann, der sie versorgt, kommt winkend auf mich zugelaufen. "Der Weg", ruft er mir schon von weitem zu, "endet dort hinten im Sumpf. Da bekommst du nasse Füße, und nicht nach Bötzow." Er ärgert sich jedes Mal, erzählt er mir in einem Ton, als sei ich Schuld daran, wenn er Wanderer zurückschicken muss. Er versteht nicht, warum die Gemeinde kein Schild aufstellt. "Soll ich vielleicht auch noch Gebühren verlangen?", fragt er schnippisch. Ich hebe ratlos die Schultern, und überlasse ihn seinem kleinlichen Zorn, von dem ich gerade heute nichts wissen will. Weiter hinten, bei einem verkrüppelten Baum an der Böschung, ruft er mir nun etwas freundlicher nach, gibt es eine Treppe zurück auf die L 60. Dann eben doch gemeinsam mit dem dicht fließenden Verkehr in den Ort.

Das österliche Bötzow gefällt sich in sonntäglicher Ruhe. Durch den Ort führt eine breite Hauptstraße, auf beiden Seiten ein Rasenstreifen mit vereinzelten Bäumen und der Weg für die Fußgänger. Eine dörfliche Allee, in Brandenburg keine Seltenheit, die an vergangene Zeiten denken lässt, ein schriller Kontrast zur seelenlosen L 60. Ein Wartehäuschen mit Fahrplan bildet den einzigen Kompromiss an die Nähe Berlins. Busse nach Hennigsdorf und nach Spandau verkehren nur an den Wochentagen. Im Hof eines Gestüts werden zwei Pferde nach dem Ausritt herumgeführt, andere gestriegelt. Von den 300 Pferden sehe ich nichts. Die Züchter in Arbeitskleidung haben heute keinen freien Tag, die Tiere müssen versorgt werden. Durch die Luft schießende Schwalben, die unter den Dächern der Ställe ihre Nester haben, Vogelgezwischer und Kummuli, die der Sonne Raum lassen. Nichts stört das idyllische Bild.

Bötzows Nikolaikirche

Bötzow, gegründet um 1200, hieß in den Tagen der Pilgerzeit Cotzebant. Erst 1694 erhielt es seinen damals vakant gewordenen heutigen Namen.
Die Feldsteinkirche mit dem mächtigen Westturm ist ein echter Blickfang. In dem leeren Dorf wirkt sie wie ein Magnet, dem ich mich nicht entziehen kann. Ich habe den Turm bereits gesehen, als ich noch zwischen den Feldern auf Bötzow zuging. Kirchtürme und Stadtmauern, schon immer Wegzeichen für Pilger. Doch im Schatten der Brücke und hinter der Landstraße, die nun die ehemalige Weite der Landschaft beengen, verschwindet er immer wieder für einen Moment. Ich ahne bereits, dass Kirchtürme für mich in den nächsten Tagen eine besondere Rolle spielen werden. Das historische Gebäude wirkt zwischen den kleinen Häusern im Ort noch dominanter, denn mehr gibt es nicht zu sehen. Die ins Jahr 1429 datierte Kirche steht auf umzäuntem Platz. Einst war es üblich, sakrale Plätze aus der Umgebung hervorzuheben, sie einzugrenzen, und so ihre Besonderheit zu signalisieren: geheiligter Boden. Im Turm soll es drei reich mit Inschriften und Wappen verzierte Glocken aus dem Hochmittelalter geben, die von außen nicht zu sehen sind, da der Turm keinen Blick ins Innere zulässt.
Die Kirche ist nicht sehr groß, wahrscheinlich eine mittelalterliche Hallenkirche, deren Mauern aus grob zugerichteten Feldsteinen errichtet wurden. Die moderne Bleiverglasung passt nicht wirklich zu dem archaisch wirkenden Gemäuer und den drei schmalen, spitz zulaufenden Fenstern, die irgendwann später verbreitert und verglast wurden. Sie erinnern nicht nur daran, sie waren einst die Schießscharten eine Wehrkirche, wie es so viele andere in Brandenburg gibt. In kriegerischen Zeiten boten sie den Gläubigen den einzigen Schutz.

Ein gepflegter Vorgarten, durch den ein gepflasterter Weg zum Eingang führt, bildet die Vorderseite des Kirchenareals. Nebenan das Pfarrhaus. Trotz des Ostersonntags ist die kleine Kirche verschlossen. Einen Schlüssel für die Holztür, die das Hauptportal bildet, bekomme ich nirgends. Im Pfarrhaus ist niemand zu Hause. Hinter der Kirche muss noch bis vor kurzem ein mächtiger Baum gestanden haben. Der Boden um einen großen Baumstumpf ist mit frischem Sägemehl und kleinen Holzresten bedeckt. Nichts weist darauf hin, dass der Baum krank war und gefällt werden musste. Es bedrückt mich jedes Mal, zu sehen, wie schnell und gedankenlos auch alten Bäumen ihre Exstenzberechtigung verweigert wird, weil Menschen glauben, die Natur diene allein ihren Zwecken. Ich verweile für ein kurzes Picknick in seiner Nähe, in Gedanken an ein ermordetes Lebewesen, und lasse mich dankbar auf dem Holzsitz nieder, der einst ein Baum gewesen ist. Auf der Rückseite begrenzt ein schlichter, schulterhoher Maschendrahtzaun das Kirchengelände. Auf der Wiese stehen mehrere eigenartige Baumstelen, die ich von weitem für die Stämme weiterer gefällter Bäume halte, dann für die Skulpturen ehemaliger Gräber. Ein zweiter Blick zeigt knapp einen Meter hohe, steinerne Baumstämme, die von einer grünlichen Patina aus Algen und Flechten bedeckt sind. Ungeordnet verstreut stehen sie hinter der Kirche. Sie sind auf einer Seite mit einem Hochrelief verziert, aus dem Stein herausgeschnitten, Girlanden aus Eichenlaub. Die Anordnung und Bedeutung dieser eigenartigen Stelen verstehe ich nicht. Wie Grabsteine sehen sie eigentlich nicht aus, denn es gibt keine Erinnerungszeichen an ihnen. Dazwischen windschiefe, teilweise eingesunkene Grabsteine und mehrere Steinplatten einer rechteckigen Kiste, die an einen Sarg erinnert. Ein seit langem aufgegebener Friedhof.
Eine Frau verirrt sich zu mir an den Baumstumpf. Ob ich ein Pilger bin, fragt sie mich, mit prüfendem Blick auf meinen Rucksack und meine Stöcke, die am Zaun lehnen. Nicht wirklich, antwortete ich, unsicher über meinen Status und von der Plötzlichkeit ihrer Feststellung überrascht. Ich weiß nicht was ich bin, ein Fußreisender vielleicht? Oder doch ein Pilger, da ich an einer Kirche raste? Wir kommen ins Gespräch, unterhalten uns, natürlich über den Camino Francés, den französischen Jakobsweg, den sie kennt. "Ich pilgere lieber in Spanien", sagt ich. "da ist es einfacher mit den Herbergen am Weg als in Deutschland." Von ihr erfahre ich auch, dass sich im Inneren der Kirche gotische Fresken befinden. Unter ihnen eine seltene Marienkrönung in höfisch prunkvollem Ambiente. Ein gekrönter Christus in langem Gewand hält in der rechten Hand die Krone für Maria, in der linken eine Weltkugel, immerhin zu einer Zeit, als die Kenntnis des heliozentrischen Weltbilds noch nicht weit verbreitet war. Ein eindrucksvoll gemalter Heiliger Johannes soll gegenüber auf der Südwand noch so gerade zu erkennen sein. Wieder bedauere ich die verschlossene Kirche, denn ich ahne noch nichts von den bedeutenden krichengeschichtlichen Artefakten, die mich in den vielen Kirchen und Kapellen am Weg nach Wilsnack erwarten. "Buen camino!" wünscht sie mir, ganz die erfahrene Pilgerin, zum Abschied. Sie jedenfalls hat sich entschieden: Sie betrachtet mich als Pilger.

Das Wunder von Wilsnack

Das numinose Faszinosum der mittelalterlichen Pilger war das Heilige Blut von Wilsnack – drei Wunder wirkende Hostien, die im Jahr 1383 unversehrt, doch blutbesprengt, einen Kirchenbrand überstanden hatten. Sie bildeten das Ziel einer der größten Wallfahrtsbewegungen des Spätmittelalters. Sie umfasste nicht nur den nordeuropäischen Raum von Brügge über Skandinavien bis in das Ordensland, sondern auch Mitteleuropa, Schlesien und Böhmen sowie das Königreich Ungarn. Die historische und kulturelle Bedeutung der Wilsnackfahrt lässt sich mit der alle sieben Jahre stattfindenden Aachenfahrt im Heiligen Jahr vergleichen, wenn den Gläubigen die Reliquien gezeigt wurden, sowie dem Besuch von Einsiedeln, den beiden anderen großen Wallfahrten im mitteldeutschen Raum.
Alle sozialen Schichten waren damals unterwegs, fromme Könige, reiselustige Adelige, um ihr Seelenheil besorgte Bürger oder zur Wallfahrt verurteilte Mörder und andere Straftäter: Sie alle pilgerten in die Mark Brandenburg, um dort eines der berühmtesten Kultobjekte Europas zu verehren. Man schrieb dem Heiligen Blut in Wilsnack die Kraft zu, Kranke, Lahme und Blinde zu heilen, Gefangene zu befreien und Ertrunkenen das Leben zurückzugeben. Auch das Erwandern meines Dritten Alters ist, wie die Pilgerschaft, ein Übergangsritual, dessen Motive, unter anderen, auch spirituell sind. Spirituell in dem Sinn, dass der Weg zu Gott immer auch ein Weg zum eigenen Selbst ist, unter dem Einfluss des mythenschaffenden, kollektiven Unbewussten an dem jeder Mensch zu allen Zeiten und in allen Räumen Zugang hat. Eine gigantische Datenbank.
Die rationalistischen Reformatoren, Jan Hus, Nikolaus von Cues und Martin Luther, zerrissen den trügerischen Nebel solcher Überzeugungen und nahmen der katholischen Überlieferung damit ihre am archetypischen Symbol orientierte Volkstümlichkeit. Durch die Reformation wurde der Religion das Gefühl ausgetrieben, insofern stimmt Karl Marx´ Rede vom Opium. An dessen Stelle trat der Verstand im nüchternen Gewand. Für diese Theologen wurde Wilsnack zum Synonym für leichtfertigen Wunderglauben und seine finanzielle Ausbeutung. 1552 verbrannte der protestantische Prediger Joachim Ellefeld das Wunderblut, und die Wallfahrten nach Wilsnack fanden ein Ende. 169 Jahre lang zog es Menschen über weite Distanzen zueinander, deren Kommunikation ein unvorstellbarer, kultureller Austausch gewesen sein muss. Vereint durch die Überzeugung von wundermächtigen Reliquien entwickelte sich eine massenpsychologisch problematische Bewegung, da sie unter dem Diktat einer absolutistisch institutionalisierten Kirche stand. In numinos-charismatischen Mächten, die sich in ungewöhnlichen, nicht-alltäglichen Objekten manifestierten, wie die Wunderbluthostien, nahm man eine räumlich spürbare Atmosphäre wahr, die leiblich erfahren werden konnte. Diese wurde von der katholischen Kirche aufgegriffen und in eine Machtstruktur transformiert, die anschließend von der protestantischen Kirche gereinigt wurde.
Das Ende der blutenden Hostien liegt inzwischen fast 450 Jahre zurück. Am Weg von Berlin nach Wilsnack finden sich immer noch Spuren der ehemaligen Wallfahrtsbewegung. Entlang des Wegs nach Wilsnack entstanden Hospitäler zur Aufnahme der Pilger, und es entstanden Kirchen und Kapellen als Transitheiligtümer. Das Wilnack-Pilgertum, schon immer eine transeuropäische Bewegung, nimmt seit einigen Jahren wieder Fahrt auf, und wieder entsteht eine Infrastruktur, auf der sich die Pilger bewegen. Die Schnittstellen des Weges mit der sakralen Sphäre, die Transitheiligtümer, sind die gleichen geblieben. Und das ist auch gut so. An den Orten, an denen das Alltägliche und das Nicht-Alltägliche aufeinandertreffen, besteht die Möglichkeit inne zu halten und meditativ in die uralte Sphäre des Genius locus einzutauchen, in das eigentlich Atmosphärische, das diese Orte spürbar zu etwas Besonderen macht.

In Bötzow finde ich kein Quartier für die Nacht. Die Herberge, die es hier gegeben hat, ist geschlossen. Aber das habe ich bereits von der fremden Frau hinter der Kirche gehört. Es ist zu spät geworden um ins sechszehn Kilometer entfernte Flatow weiterzugehen, und da auch kein Bus verkehrt, laufe ich zurück nach Hennigsdorf und fahre mit der S-Bahn nach Berlin. Morgen, morgen gehe ich nach Flatow. Am Abend noch ein letzter Cappucino zum Abschied von meiner Tochter.
Ich werde zu Fuß reisen. Mein Er-Reisen soll ein Er-Fahren sein. Eine Wanderung, von der ich mir noch nicht vorstellen kann, ob sie nicht zuletzt in eine Pilgerfahrt mündet, wie ein Fluss in den Ozean. Und so überlässt sich der Pilger, sagt man, dem Strom des größeren Lebens, das ihn über ferne Horizonte zu einem seinem Blick noch verborgenen, aber stets gegenwärtigen Ziel führt. Das neue Ufer liegt immer jenseits der Liminalität. Zukunft ist Apräsenz! Buddhistisch verstanden ein fragloses Einverstandensein mit der ewigen Gegenwart. Lama Anagarika Govindas Worte klingen in mir nach, wann immer ich von meiner Wanderung erzähle, die beginnt mein Bewusstsein auszufüllen. Die konkret geworden ist, weil ich sie ausgesprochen habe. Ich werde mich nicht länger fremdbestimmen lassen. Die Zügel an meinen Schultern sind brüchig und morsch. Befreit werden meine Schultern meinen eigenen Rucksack tragen. Und was hineinkommt, bestimme ich selbst.
Aber das alles muss ich auf meiner Wanderung erst noch erobern, er=fahren. Zu Hause, das weiß ich, finde ich es nicht. Und wo mein Zuhause ist, kann ich gerade nicht sagen. Eine neue Selbständigkeit finden. Ich wundere mich über meinem Mut etwas Ungewöhnliches wie diese Wanderung zu unternehmen, etwas so Verrücktes, von dem ich gar nicht weiß, ob ich das in meinem Alter noch schaffen kann. Verrückt ist es, aber es macht Sinn. Ich habe das Gefühl, dass es nicht anders geht, ich nicht anders kann. Beinahe unbemerkt, unerwartet wie der Dieb in der Nacht, ist sie gekommen: Die Zeit loszulassen. Was als Wunsch begann, entwickelt sich zu einem unabweisbaren Bedürfnis. Es ist es zu spät, dem Dieb seine Beute zu verwehren.

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