Ich bin ausgeruht und satt und mache mich gut gelaunt auf den Weg. Wieder war das letzte Quartier das beste: die Freundlichkeit meiner Gastgeber, das reichhaltige Frühstück, von dem sich die Reste in meinem Rucksack befinden, die Qualität von Matratze und Unterkunft. Heute ist der letzte Tag meiner Fußreise durch die Altmark auf dem Brandenburgischen Jakobsweg; Sand-, Feld und Waldwege und das längste zusammenhängende Reitnetz Europas. Schließlich kommt die Sonne doch noch zurück. Der Weg ist trocken, der Tag warm und sonnig. An den Himmel hat jemand Cirruswolken gesprüht. Ein idealer Wandertag.
Ich verlasse Krusemark über die Dorfstraße zurück auf dem Elberadweg ins zwei Kilometer entfernte Groß-Ellingen. Hinter den letzten Häusern schlängelt sich der gepflasterte Radweg zwischen blühenden Apfelbäumen an einer Landstraße entlang, die vergebens auf ein Auto wartet. Jenseits des Ortsschilds steht eine weitere romanische Feldsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert verlassen zwischen Feldern. Kurz verspüre ich den Impuls einzutreten, um mir die vier Epitaphe der Familie Krusemark anzusehen, aber den Schlüssel zu besorgen, ist mir früh am Sonntagmorgen zu umständlich. Die Kühle eines Kirchenschiffs verspricht nicht wirklich eine Alternative für das Licht der warmen Morgensonne. Auf meiner Fußreise habe ich inzwischen genug bedeutende Bauwerke, Orgeln, Skulpturen, mannigfach künstlerische Ausdrucksweisen und Kirchendesign aus dem Mittelalter gesehen. Ich fühle mich gesättigt und will mir nicht den Appetit verderben. Meine Neugier auf Kirchenkunst muss noch für die St. Stephanskirche in Tangermünde reichen.
Groß-Ellingen ist ein Straßendorf ohne besonderen Reiz. Das Gehen hat mich aufgewärmt, doch bevor ich zu schwitzen beginne, ziehe ich mich im Wartehäuschen einer Bushaltestelle um. Der Radweg verläuft immer noch neben einer wenig befahren Landstraße. Nicht weit vor mir lockt ein Wald, dessen Kiefern ich zehn Minuten später schon wieder hinter mir lasse. Erneut bin ich auf einer Landstraße zwischen Feldern unterwegs. Nach Arneburg ist es nicht mehr weit. In einem Graben links des Wegs haben sich Schlüsselblumen angesiedelt. In einem langen Band begleiten mich die kurz vor der Blüte stehenden Blumen mehrere hundert Meter. Nie zuvor habe ich so viele Schlüsselblumen auf einem Fleck gesehen. Auf dem Asphalt der Landstraße kämpft ein Brauner Bär mit dem Wind, der auch heute kräftig weht. Die Flügel des Schmetterlings schwanken im Wind hin und her, aber es gelingt ihm nicht, abzuheben. Über mir, aus den jungen Bäumen, die einmal eine stattliche Allee werden wollen, schallt das morgendliche Vogelorchester. Wieder komme ich am falschen Ende in eine Stadt. Es dauert eine Weile, bis das Zentrum erreiche. Die von historischem Fachwerk gesäumten Straßen der Altstadt sind verlassen. Den von einstöckigen Fachwerkhäusern gesäumten Markt um kreist eine Gruppe Radwanderer auf der Suche nach Orientierung. Ich setze mich auf eine Bank gegenüber einem Brunnen mit der Gänsemagd und warte im Windschatten auf den Impuls weiterzugehen. Die Sonne scheint, der Brunnen plätschert beruhigend und mir ist warm. Der Ort, den ich mir für eine kurze Rast ausgesucht habe, fühlt sich gut an. Feng Shui in der Provinz
Die Stadt Arneburg liegt auf einer Hochfläche am Westufer der Elbe, und gehört zu den ältesten Siedlungen der Altmark, bereits 984 als civitatis bezeichnet. Der Name der Ortschaft leitet sich von der Adlerburg ab, die um 925 unter Heinrich I. als Grenzfeste gegen die Slawen errichtet und 978 als ottonische Reichsburg und wichtigste Befestigung der damaligen Nordmark erwähnt wird. 1160 übernahmen die Askanier die Burg. Nach dem Dreißigjährigen Krieg verfielen Schloss, Burg und Burgkapelle. Auf dem ehemaligen Burgberg, fünfunddreißig Meter über der Elbe, findet der Wanderer heute ein mondänes Restaurant mit Außenterrasse und Blick über die Elbe. Vorbei am Restaurant, aus dem Bratenschwaden über den Platz weht, gelangt man auf einen Steg hinüber auf das Stahlgerüst einer Aussichtskanzel. Eine fantastisch weiter Blick im jetzt stürmischer wehendem Wind auf den träge fließenden Fluss und seine Auenlandschaft. Unter mir ein Yachthafen, den ich hier nicht erwartet hätte. Am Hang letzte Reste der Backsteinmauer der alten Arneburg, auf der die Fundamente neuer Häuser errichtet wurden. Die stählerne Brücke hinaus ins Freie, zusammen mit dem Neubau der Gastronomie, ist so unpassend, dass es schmerzt. Doch so weit oben über der breit fließenden Elbe, frei und unbegrenzt im Wind, versöhnt mich die Wunde in der Landschaft. Im Augenblick der perfekte Ort, hoch über dem Fluss, der sonst unzugänglich wäre. Wer diesen Blick erlebt, kann nicht umhin, die Mark Brandenburg zu lieben.
Einst ermöglichte der Fischfang in der Elbe den Menschen in Arneburg ein gutes Einkommen. Die letzten Fischer der Stadt sind längst gestorben, doch unvergessen. Auf einem kleinen Platz vor der Kirche stellt ein Brunnen, der an die einst sehr bedeutende Elbfischerei erinnert, das Grimmsche Märchen Von den Fischer und siine Fru dar. Die Fischerei hat das in DDR-Zeiten im fünf Kilometer entfernten Dorf Niedergörne errichtete Atomkraftwerk Stendal ersetzt. Im Zuge der Bauarbeiten wurde Niedergörne mitsamt der Kirche dem Erdboden gleich gemacht und die Bewohner mussten das Dorf verlassen. Die gravierenden Sicherheitsmängel der eingesetzten sowjetischen Reaktoren führten trotz der Katastrophe von Tschernobyl, erst 1991 dazu, dass der Betrieb des AKW eingestellt wurde. Auf dem Werksgelände des ehemaligen Kraftwerks entstand der Industrie- und Gewerbepark Altmark, eine andere schwärende Wunde der Elbauenlandschaft.
Wanderungen in der Mark Brandenburg nehmen schnell einen musealen Charakter an. Was es dazu braucht, ist ein Interesse an Kultur, oder an dem, was in meiner Schulzeit Heimatkunde hieß. Es ist beinahe unmöglich, die reichhaltigen kulturellen Hinterlassenschaften zu übersehen. Das Besondere an einer Wanderung durch die Mark, sie verbindet beides: Landschaft und Kultur, die sich gegenseitig bereichern. So ist auch die ehemalige Wehrkirche Sankt Georg, die auf dem Hochufer über der Elbe unmittelbar an den Fluss grenzt, ein kulturgeographisches Kleinod. Sie steht auf Fundamenten aus dem 10. Jahrhundert und gehört zu den ältesten Kirchen der Altmark. Am Kirchenportal verlangt ein schmuzelndes Schild: Bitte die Türe schließen, auch Katzen sind eifrige Kirchenbesucher. Eine dieser Katze sonnt sich gegenüber auf der steil zur Elbe abfallenden Mauer und beobachtet mich gespannt. Gelangweilt wartet sie nur darauf, dass ich vergesse, die Tür zu schließen. Um 1200 erbaut, wurde die romanische Stadtkirche 1767 bei einem Stadtbrand weitgehend zerstört. Die Hitze soll so stark gewesen sein, dass die Glocken tropften. Friedrich II. spendete sechsundzwanzigtausend Taler für den Wiederaufbau. Doch der Umbau nach dem Brand bewahrte nur die romanischen Portale. Der größte Teil des Baumaterials stammte aus der inzwischen zur Ruine verkommenen Burg, von der nur Reste der Grundmauern erhalten blieben. Fast hundert Jahre später erhielt die Kirche ihren neugotischen Turm, dessen Glocken im Ersten Weltkrieg zum Dienst für das Vaterland eingezogen wurden. Nur fünf Jahre später kam ein neues Geläut aus vier Stahlglocken nach Arneburg, die bis heute den Feierabend einläuten.
Die Achse des Kirchenschiffs ist nicht mit der des Altarraums identisch, was ungewöhnlich ist. Aufgrund dieser Besonderheit vermutet man, dass sich dort, wo jetzt der Altar steht, im 10. Jahrhundert eine Kapelle des Thomas-Klosters von Arneburg befand, das 983 gegründet wurde. Dieser Bau überlebte die Jahrtausendwende nicht. Spätere Baumeister haben die heutige Kirche auf den älteren Fundamenten errichtet, und die ursprüngliche Struktur übernommen. Der dreihundert Jahre alte Barockaltar steht ungenutzt an der hinteren Wand des Chors. Er wurde ursprünglich für die Heilig-Geist-Kapelle in Quedlinburg geschaffen. Der aufwändig gestaltete und restaurierte Quedlinburger Altar ist etwas wirklich Besonderes. Er befindet sich schon seit Jahren in Arneburg. Er führt schon seit Jahren ein Schattendasein. Er erinnert mich an die Madonna von Barsikow. Von beiden Kunstwerken entsteht der Eindruck, dass man sie als zu bedeutend für den alltäglichen Gebrauch betrachtet. Die Themen der Bildtafeln illustrieren die Passionsgeschichte um das Osterfest und gipfeln im oberen Abschluss in der Skulptur des auferstandenen Christus, der sich mit Siegesfahne über dem leeren Grab erhebt. Als interessantes Detail im Altarraum der Stadtkirche erinnert ein Ehegedenkstein an die Familie Woldeck, die vom 14. bis 16. Jahrhundert Burgvögte in Arneburg waren und in der Burg wohnten. Der Stein mit den beiden, wie Eheringe verschlungenen Wappen, stammt aus Niedergörne. Nach der Zerstörung des Dorfes durch den Bau des AKW musste er weichen. Er befindet sich seitdem in der Kirche von Arneburg. In Sankt Georg dient nur ein einfach gestalteter Tisch als Altar, der verloren inmitten des Kirchenschiffs steht. Über all dem ist es Mittag geworden, und der Kirchenraum gähnt in seiner Verlassenheit.
Von Arneburg nach Billberge verläuft eine unbefestigte, sandige Piste neben dem Elberadweg. Neben einer übermannsgroßen, vogel- und insektenbevölkerten Hecke gehe ich die drei Kilometer über den Sand nach Billberge leichter. Schnell vergessen meine Füße die Pflastersteine des Radwegs. Der Weg mäandert durch Felder und Weiden unter heiß brennender Sonne. Die Hecke links des Wegs spendet erfrischenden Schatten, unter dem ein leichter Wind Kühlung fächelt. Gelegentlich überholen mich Radfahrer, die zwischen den beiden Ortschaften pendeln, oder Radwanderer auf High-Tech-Rädern, auf deren bunten Trikots einschlägige Firmenlogos prangen. Die Landschaft ist leicht hügelig und der Weg schlängelt sich auf und ab. Die Wärme ist angenehm und ich komme entspannt gut voran.
Zwischenwelt und biographische Schwelle Der moderne Pilger, glaubt auch Christian Kurrat, sei seinem Leben auf der Spur. Menschen machen sich an einer entscheidenden Stelle ihrer Biographie auf den Weg, immer dann, wenn der Fluss des Lebens in ein neues Bett fließt: Pilgern ist ein Programm, die einzelnen Phasen oder Stationen eines Übergangsritual, in dessen Verlauf die Energie entsteht, die eigene Biographie zu überdenken und zu re-strukturieren. Die geistige Rückschau auf die eigene Lebensgeschichte, während des tage- oder wochenlangen, oft einsamen Wanderns, dient der biographischen Bilanzierung und Selbstvergewisserung. Die Stille in der Natur ermöglicht Kontemplation und intensive Auseinandersetzung mit dem vergangenen Leben. Das imaginäre Gegenüber von gespürter Natur und Landschaft wird zum Therapeuten, dessen aufmerksame Inspiration hilft, das eigene Leben einzuordnen, um ihm Bedeutung zu geben. Ein ungeplantes Ereignis, das als Schicksalsschlag empfunden wird, und den Menschen massiv erschüttert, kann in eine biographische oder spirituelle Krise führen, verursacht durch Verlust, Angst oder Schmerz. Findet jemand in dieser Situation auf den Pilgerweg, wechselt er in eine alternative Rolle wie in eine parallele Welt. In dieser temporären Rolle besteht die Möglichkeit, einen Weg zur Bewältigung dieser Krise zu finden. Die Metaphorik, die dem augustinischen Solvitur ambulando zugemutet wird, macht auf diese Möglichkeit aufmerksam. Pilgern, weil die vertraute Welt zusammengebrochen ist, damit es wieder besser werden kann. Um zur Ruhe zu kommen. Die körperlichen Anstrengungen und Herausforderungen, die Gespräche mit anderen Pilgern, reinigen in dieser psychischen Ausnahmesituation Körper, Psyche und Geist. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten sind auch die Trias der psychoanalytischen Therapie. Die Anerkenntnis dessen was ist, wie es ein Buddhist ausdrücken würde, entfaltet besonders in der Liminalität einer Pilgerfahrt ihre heilsame Wirkung. Der biographische Bruch des Pilgern mit der Alltäglichkeit wird durch kein bestimmtes Ereignis ausgelöst, sondern durch eine Kette von Erlebnissen und Erfahrungen sowie der daraus resultierenden psychischen Befindlichkeit. Schwierige, unbefriedigende oder entbehrungsreiche Situationen des Alltagslebens oder die ungeliebten Anforderungen und Erwartungen der Lebenswelt stellen früher oder später immer die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Frage danach, ob das, was man tut, auch das Richtige ist. In dieser Verfassung ermöglicht Pilgern Distanz, Ruhe und Entschleunigung - einmal heraustreten aus der Kreativität tötenden Struktur und Routine; heraus aus einem falschen in ein richtiges Leben. Einmal ungestört bedenken, um was es im Leben geht. Im Hier und Jetzt, ohne die Ablenkungen und Störungen der gewohnten Umgebung. Vom Pilgern erwarten Menschen eine neue Optionen für ihr Leben und Entscheidungen, etwas zu verändern. Gelingen kann dies nur in der temporären, radikalen Trennung vom heimischen Umfeld. Die Communitas der Pilgergemeinschaft, wie Victor Turner es nennt, fängt sie auf und ermöglicht neue Wahrnehmungen von sich selbst in Gemeinschaft mit anderen, stiftet neuen Sinn. Von Eskapismus, Flucht aus dem Alltag zu reden, obwohl es um reflektionsfördernde Distanz geht, erscheint einseitig und zu negativ konnotiert. Die biographische Schwellensituation der Liminalität erfüllt die Merkmale der rituellen Funktion einer Pilgerfahrt am deutlichsten. Die liminoide Phase der Communitas folgt der Trennung, der Lösung vom Alltagsleben, und führt in den neuen Status einer alternativen Rolle. Pilgern unterstützt das Loslassen einer abgeschlossenen Lebensphase und begleitet den Übergang: von der Pubertät ins Erwachsenwerden, vom Individuum in Familie und Gemeinschaft, schließlich den Eintritt in das Dritte Alter. Pilgern stellt die Weichen neu und bereitet auf die nächste Phase vor. Eine Pilgerfahrt bietet die Möglichkeit, die Vergangenheit zu bilanzieren, sie abzuschließen und von der Apräsenz einer neuen Zukunft zu träumen, die sich erst noch verwirklichen muss. Wer sich jedoch zu sehr mit Bilanz (Vergangenheit) und Traum (Zukunft) beschäftigt, verliert sich leicht in seinem eigenen, egozentrischen Wollen und Wünschen, und verfällt einer sich im Konsum versenkenden Habgier. Die Liminalität muss sich allein auf die Gegenwart beziehen, damit eine Pilgerfahrt ihre Wirkung entfalten kann. In der Liminalität der biographischen Schwelle geht es nur darum, sich seiner Gegenwart, die das Leben ist, bewusst zu werden. Der bewusste Abschluss einer Lebensphase benötigt die biographische Krise und den biographischen Übergang. Die Entscheidung für eine Pilgerfahrt stellt den Abschluss einer biographischen Phase dar und bereitet den Eintritt in eine veränderte Existenz vor, die dem Pilger zu Beginn immer als ein Weg ins Offene, Unvertraute und Ungewisse, erscheint. Pilgern ist eine Passage, ein ritualisierter Übergang in der Communitas mit Gleich-Gesinnten, Gleich-Betroffenen, die von einem Status in den nächsten wandern. Der Verlust von Initiations- oder Übergangsritualen ist ein Phänomen der Postmoderne, dem Pilgern in jedem Alter und in jeder Lebensphase entgegenwirken kann. Pilgern ist Selbstvergewisserung in Gemeinschaft mit anderen im liminoiden Zustand: aus der Rolle gefallen und zwischen den Stühlen sitzend - betwixt and between, nennt Victor Turner diesen Zustand. Der Gedanke einer Pilgerfahrt als Übergangsritual im liminoiden Zustand klingt bei Kurrat ähnlich:Dies führt dazu, dass die gesamte Pilgerschaft unsicher ist. Der Mensch weiß nicht, was ihn erwarten wird, sowohl vor der Pilgerschaft, wenn er sein heimisches Umfeld verlässt, als auch an jedem Pilgertag, denn er kann sein Morgen nur geringfügig planen und voraussehen. Der Mensch steht also zu Beginn seiner Pilgerschaft vor einem neuen Leben: die bekannte Welt verlassend, in einer fremden Region und mit der Intention, während der Reise biographische Neukonstruktionen vorzunehmen. |
Seit 2010 sind Billberge, Storkau und Hämerten, die letzten Ortschaften auf meinem Weg, Ortsteile von Tangermünde. Billberge wurde 1444 erstmals erwähnt, abr ich sehe der Ortschaft ihr Alter nicht an. Aus dem ehemaligen Rittergut ist ein christliches Jugenddorf geworden; die Sankt Christopheruskapelle und ein benachbartes, verfallenes Mausoleum sind die letzten Zeugen des Mittelalters. Zwischen Bäumen und Büschen wandere ich ohne Aufenthalt leichtfüßig weiter nach Storkau. Das kleine Dorf Storkau war im 12. und 13. Jahrhundert Sitz der Ritter von Storkau. Erst 1492 übernahm die Familie Woldeck aus Arneburg das Rittergut. Am Ortsrand säumt ein hoher Drahtzaun den Weg, hinter dem ein von Vegetation verstecktes, neubarockes Gebäudeensemble liegt: Schloss Storkau, das so überhaupt nicht nach einem Schloss aussieht, eher nach einem Hotelkomplex. An der Toreinfahrt der Hinweis auf den Biergarten. Durstig wie ich schon wieder bin, biege ich ohne nachzudenken auf den Kiesweg ab, der über den Gästeparkplatz durch den Park am Schloss endet. Der standesgemäße Biergarten ist eine auf der Rückseite des Schlosses gelegene Terrasse mit Elbblick; festlich mit weißem Tischtuch eingedeckte Tische. Der Wind fegt durch den Park am Elbufer bis hinauf zwischen die Tische. Er zerrt an den Tischtüchern und hat die Tische bereits teilweise abgedeckt. Nur dort, wo Tassen und Gläser stehen, finden sie noch einen letzten Halt. Im Restaurant sind alle Plätze besetzt. Festlich gekleidete Bildungsbürger lauschen andächtig klassischer Musik, die seicht durch die geschlossenen Glastüren plätschert.
"Haben Sie reserviert?", fragt mich die Empfangsdame an der Rezeption des mondänen Vier-Sterne-Hotels.
"Nein", antworte ich, "ein Radler reicht mir."
"Das können Sie haben", meint sie freundlich lächelnd, und nimmt am durchgeschwitzten Pilgern keinen Anstoß. In meine Jacke verkrochen sitze ich schließlich mit einem Glas kaltem Radler auf der windigen Terrasse. Die im Wind flatternde Tischdecke beschwere ich mit meinen Stöcken. Frierend schmeckt mir das eben noch verlockende Radler nicht mehr, und ich wünsche mir, ich hätte mich für heißen Tee entschieden. Von der Terrasse führt eine große Freitreppe auf die zwischen Bäumen fünfzig Meter entfernt vorbeifließende Elbe, sodass mir wenigstens der Blick in die Sonne bleibt.
Einige hundert Meter weiter Richtung Hämerten steht eine der sieben, sogenannten verkehrten Kirchen, die eine Besonderheit der Altmark darstellen. Die kleine Dorfkirche aus Feld- und Backsteinen in Storkau blickt auf eine anscheinend bewegte Baugeschichte zurück, denn einzelne Spuren ihrer ehemaligen Funktion als Wehrkirche sind nicht zu übersehen. Die Mauern des flach gedeckten Kirchenschiffs wurden, fast bis zur Unkenntlichkeit, immer wieder umgebaut. Zahlreiche Schießscharten in der Außenwand zeugen noch von den unruhigen Zeiten, als die Kirche eine Festung zur Überwachung des Elbübergangs war. Der Bau gehört zu den sogenannten romanischen Chorturmkirchen, bei denen sich der Altarraum, der Chor, im Untergeschoss des Turmes befindet, der häufig auch als Glockenturm dient. Ungewöhnlich ist auch, dass der Chor im Osten mit der Turmwand abschließt und nicht mit einer Apsis über diese hinausragt.
Von hohen Hecken gesäumt, die den böiger gewordenen Wind brechen, erreiche ich gut geschützt Hämerten. Hinter einer Bahntrasse biegt der Weg ins Dorf ab, die ersten Häuser kommen in Sicht. Am Ortsrand steht eines der üblichen Denkmäler für die Gefallenen der letzten Kriegstage von 1945. Im Hintergrund ragt der Turm der Stephanskirche von Tangermünde über das Dorf. Die Zeit läuft mir davon, und ich hoffe, dass die Kirche in Tangermünde nicht um 16 Uhr schließt. Nach den vielen Pilgerstempeln in meinem Pass würde mir der letzte, der der Stephanskirche fehlen, der das Ende meiner Pilgerfahrt markiert.
Schnurgerade führt die Hauptstraße durch den kleinen Ort, der mit wenigen Schritten durchquert ist. Wieder die kleinen Eigenheime rechts und links des Wegs, nur unterbrochen von einer ausgedehnten Wiese mit Spielplatz und Picknickbänken, einst vielleicht der Marktplatz vor der Kirche. Auch der Kirchenbau in Hämerten gehört zu den verkehrten Kirchen, deren Turm im Osten steht. Über einem Viereck, der Basis des auffällig großen Turms, entfaltet sich dieser über dem Chor zu einem Achteck. Sie erinnert an einige Kirchen des Camino Francés, den Mudéjar-Stil des maurisch-christlichen Spanien. Die Chorturmkirche von Hämerten ist die älteste der Region. Im Mittelalter anscheinend ein bedeutender Ort, denn verschiedene Adelshäuser und der Klerus besaßen hier ihren Besitz. Die Feldsteinkirche wurde Ende des 12. Jahrhunderts erbaut, für den Dachstuhl ist das Jahr 1191 belegt. Aber ich verweile nicht lange bei der Kirche, und da die Bänke vor der Kirche von einer Familie besetzt ist, verschiebe ich die geplante Rast, obwohl meine Füße wieder murren. Tangermünde wartet.
Die letzten Kilometer meiner Fußreise auf dem Brandenburgischen Jakobsweg sind angebrochen. Obwohl die Zeit drängt, zögere ich wieder, wie vor Wochen, als ich die ersten Häuser von Wilsnack sehe, als ob mich etwas daran hindert, anzukommen. Unschlüssig warte ich am Ortsrand von Hämerten, auf einen Impuls weiterzugehen. In der Ferne wölbt sich eine moderne Bogenbrücke über die Elbe, der Kirchturm der Stephanskirche ist nun deutlich zu erkennen, Umrisse der Wahrzeichen Tangermündes, eine provinzielle Skyline, in den Himmel graviert. Ein kleiner Rastplatz am Ortsrand, eine Wohnzimmerinstallation: zwei aus Holz gezimmerte Sessel, ein kleiner runder Beistelltisch und eine Bank locken einladend. Sie wirken bequemer als sie sind. Doch ich entschließe mich für eine letzte Rast in einem der klobigen Sessel, faulenze, meine müden Beine auf dem Tisch abgelegt. Die Bogenbrücke und Turmspitze der Stephanskirche im Blick. Radwanderer fahren vorbei, grüßen oder blicken stur nach vorn. Wie schon vor Tagen auf dem Weg nach Havelberg schon einmal, zieht sich der Weg auf dem Deich gefühlt endlos dahin. Inzwischen verschwindet die Sonne, verabschiedet sich allmählich hinter aufziehende, dichte Bewölkung oder versteckt sich hinter den letzten Kumuluswolken. Der Wind weht wieder kräftiger aus wechselnden Richtungen über die flache, ungeschützte Auenlandschaft, die die Felder und Weiden verdrängt hat. Ich bedauere die mich langsam überholenden Radfahrer, die mühsam gegen den Wind ankämpfen, der ihnen weitaus mehr zusetzt als dem Fußgänger. Endlich gehe ich unter der Bogenbrücke hindurch, noch ein paar hundert Meter an der Elbe entlang, dann stehe auf einer breiten Einfallstraße in die ehemalige Hansestadt Tangermünde.
Auf dem langen Weg durch die Stadt ins Zentrum treffe ich vier Wanderinnen. Es gibt also doch noch andere, und nicht nur mich, auf diesem Weg. Ich begrüße die Damen, die mich zuerst verständnislos anschauen. Aber dann verstehen sie doch und lachen. Sie haben gestern drei ältere Herren getroffen, erklären sie mir, die wie sie nach Tangermünde unterwegs waren, und dachten ich sei einer von denen, die sie weit vor sich wähnten. Ich will schnell weiter, da ich immer noch befürchte, die Kirche schießt um 16 Uhr. Kurz nach vier erreiche ich Sankt Stephan und trete glücklich, angekommen zu sein, in das kalte Kirchenschiff.
Die Hansestadt Tangermünde, die man auch die Königsstadt nennt, liegt südöstlich von Stendal in der Altmark, auf dem linken Ufer der Elbe, unmittelbar an der Einmündung des Tanger. Das Stadtbild ist durch einen gut sanierten Altstadtkern mit seinen Fachwerk- und Backsteinhäusern geprägt, die die Stephanskirche eng einkreisen. Ein Magnet des regionalen Tourismus. Auch die ehemalige Stadtmauer mit ihren Toren ist aus den erhaltenen Mauerresten sorgfältig restauriert, sodass alte und neue Teile der Mauer gut zu unterscheiden sind. Für Burg Tangermünde und einen Blick auf die Elbe fehlt mir heute die Energie. Wieder bedauere ich meine schlechte Kondition, die gerade ausreicht, Nachmittags anzukommen. Doch ich hadere nicht mit meinen Körper, der mich Tag für Tag bemühte mich ans Ziel zu bringen. Für manche lohnende Besichtigung wäre ein Tag um zu bleiben, gut gewesen. Eingespannt in einen Arbeitsalltag sind die vier Tage, die ich für meine Fußreise hatte, zu wenig. Trotzdem freue ich mich, dass ich den Weg bewältigt habe, obwohl er mir unterwegs immer wieder schwer wurde. Der Gedanke aufzugeben kam mir mehr als einmal, besonders wenn mein Rucksack auf Rücken und Füße drückte und mir das Weitergehen mühsam wurde.
1009 erwähnte der Chronist des Bischofs Thietmar von Merseburg die Burg Tangermünde als civitate Tongeremuthi, da dort die tongera in die Elbe mündet. Wie Havelberg gehörte auch diese Burg zum Verteidigungssystem der Deutschen Kaiser gegen die Slawen an der Elbe. Im 13. Jahrhundert war Tangermünde ein Markort, der sich schnell zur Stadt entwickelte. Die erste urkundliche Erwähnung als Stadt datiert aus dem Jahr 1275. Ihre strategisch günstige Lage auf einer Endmoräne, hoch über der Elbe, prädestinierte Tangermünde zu einer markgräflichen Residenz mit dem Recht die Elbzölle einzuziehen.
Im späten 14. Jahrhundert erwarb Kaiser Karl IV. die Mark Brandenburg und integrierte das Land in das böhmische Königreich. Tangermünde war in dieser Zeit eine Nebenresidenz des Hradschins in Prag. Unter Karl IV. wurde Tangermünde von 1373 bis 1378 zum Zweitsitz des deutschen Kaisers, die alte Burg zur Kaiserpfalz. Die Stadt sollte unter Karls Regentschaft zur Hauptstadt der mittleren Provinzen aufsteigen. Doch nach Karls Tod kam es zu Unruhen und Spannungen in der Mark, eine goldene Stunde für Abenteurer und Raubritter wie Dietrich von Quitzow. Erst unter der Regierung der Hohenzollern, die 1415 von König Sigismund, einem Sohn Karl IV., als Kurfürsten der Mark belehnt wurden, beruhigte sich die Region. Das 15. Jahrhundert sah Tangermünde in seiner Blütezeit als Hansestadt. In diesen Jahren entstanden die Stadttore und das Rathaus im Stil der norddeutschen Backsteingotik. Die Stephanskirche wurde damals zu einer gotischen Hallenkirche ausgebaut. Durch einen Streit um die Biersteuer 1488 verlor die Stadt die Gunst des Kurfürsten Johann Cicero von Brandenburg, der ihr, wie auch Stendal, die Selbständigkeit nahm. Nach dem missglückten Aufstand der Stadtbevölkerung verlegte er seine Residenz nach Cölln.
Ein Justizirrtum im 17. Jahrhundert Am 13. September 1617 brannte auch Tangermünde fast vollständig ab. Die Schuld daran gab man der Waise Grete Minde, die angeblich aus Rache für das ihr vorenthaltene Erbe gehandelt haben soll. Sie wurde zum Tode verurteilt und 1619 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die Novelle Grete Minde, die Theodor Fontane 1879 schrieb, thematisiert dieses traurige Kapitel der Stadt Tangermünde. Er erzählt die Überlieferung von einer jungen Frau nach, die aus Hass und Enttäuschung die altmärkische Stadt an der Elbe anzündete, sodass viele Menschen in den Flammen und unter den Trümmern den Tod fanden. Fontanes Novelle beruht auf einer wahren Begebenheit, die er 1878 in Tangermünde leider schlecht recherchierte. Grete Minde ist eine historische Persönlichkeit, und auch der Erbschaftsprozess und der Großbrand von 1617 sind historisch dokumentiert. Große Teile der Stephanskirche fielen in diesem Jahr ebenfalls den Flammen zum Opfer. Was Fontanes nicht wissen konnte: Grete Minde war keine Brandstifterin, sondern Opfer von Intrige und eilfertiger Justiz, die sie nach Verleumdung und Folter zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilte. Am 22. März 1619 wurde Grete Minde hingerichtet. Die Dokumente im Stadtarchiv von Tangermünde sprechen eine andere Sprache. Schon drei Jahre nach Erscheinen von Fontanes Novelle befasste sich der Jurist und Historiker Ludolf Parisius mit dem Fall und sprach von einem Justizirrtum. Grete Minde musste sterben, weil sie für die etablierte Familie Minde eine Bedrohung sowohl ihres Rufes als auch ihres Besitzes darstellte. Zudem sah sich der Stadtrat unter zunehmendem Zwang, der aufgebrachten Bevölkerung Tangermündes eine Schuldige zu präsentieren. Erst 2009 enthüllte die Stadt, viel zu spät, eine lebensgroße Bronzeskulptur des Grafikers und Bildhauers Lutz Gaede, die Grete Minde, Skulptur einer in Ketten gelegten Frau in gebeugter Haltung, unzureichend rehabilitiert. Nach dem Brand entstanden in der Stadt prächtige Fachwerkhäuser mit aufwendig gestalteten Fassaden, geschnitzten Portalen und Schmuckelementen, sodass die Architektur der Stadt von Grete Mindes Tod profitierte wie Rom durch Neros Brandstiftung. Honi soit qui mal y pense. |
Im Dreißigjährigen Krieg verlor Tangermünde seine Bedeutung als Handelszentrum und sank zu einer unbedeutenden Stadt herab. Die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg überstand die Bausubstanz der Stadt relativ unbeschadet. Die erst 1933 fertiggestellte Elbbrücke teilte dagegen das Schicksal vieler anderer Brücken in Deutschland. Auch während der DDR-Diktatur bleib die Altstadt Tangermündes weitgehend unverändert, sodass die wichtigsten Baudenkmäler, für DDR-Städte nicht unbedingt selbstverständlich, erhalten blieben. In den 1990er Jahren wurden die Gebäude sorgfältig restauriert. Den Stadtbrunnen, mit Tafeln von Ereignissen aus der Geschichte Tangermündes vor dem Hauptportal der Stephanskirche, entwarf die Bildhauerin Karolin Donst. 2006 bildete der Brunnen den vorläufigen Abschluss der Stadtsanierung.
Sankt Stephan aus dem 12. Jahrhundert schließt nicht um 16 Uhr, und mir bleibt Zeit genug. Die Kirche überragt weithin sichtbar die Altstadt. Sie dominiert das Stadtbild Tangermündes. Im späten Mittelalter, im 14. und 15. Jahrhundert, wurde der romanische Vorgängerbau in mehreren Bauphasen zu einer dreischiffigen Hallenkirche im Stil der norddeutschen Backsteingotik umgebaut. Die während des Stadtbrands heruntergestürzte Spitze des Nordturms wurde erst 1714 im Stil des Barock als Haube gestaltet erneuert. Die Rekonstruktion der hölzernen Teile der Turmhaube fand, erst sehr viel später, Ende des 20. Jahrhunderts statt.
Der Brand von 1617 zerstörte große Teile der Innenausstattung, sodass die meisten Stücke der Ausstattung aus dem 17. Jahrhundert stammen: die Langhausempore, die steinere Kanzel mit Elementen der Spätrenaissance und die Moses-Skulptur als Kanzelträger, die barocke Scherer-Orgel und das Chorgestühl. Der beschädigte Altar mit seinem in der Altmark einmaligen, barocken Hochaltarretabel wurde erst 1705 ersetzt. Den nördlichen Teil des Langhauses schmückt eine hölzerne Empore mit 41 gotischen Bildtafeln, die Szenen aus der Genesis, Erzählungen von den Erzvätern und der Josephsgeschichte enthalten. Bei den wenigen erhaltenen Ausnahmen mittelalterlicher Artefakte handelt es sich um Skulpturen von Heiligen im südlichen Chorumgang, eine Mater Dolorosa sowie der seltene Grabstein eines Pilgers am Ausgang zum ehemaligen Friedhof. Der Grabstein zeigt die Gravur eines Pilger mit einer Gürteltasche, auf der das Wilsnacker Pilgerzeichen der drei Wunderhostien zu sehen ist. Insgesamt eine mehr würdige Ausstattung für eine provinzielle Kirche am Ende eines Pilgerwegs.
In einer Nische, unauffällig und abseits des touristischen Treibens im Kirchenschiff, steht ein hölzerner Jakobus auf einem Sockel, dessen Basis sein Symbol, die Jakobsmuschel, ziert. Plötzlich und unerwartet stehe ich vor dem Heiligen, dessen Reliquie in Santiago de Compostela einen mittlerweile tausendjährigen Hype europäischen Pilgerns ausgelöst hat. Eine bescheidene Statue für eine Berühmtheit, aus braunem Holz ohne jede Verzierung. Kein Vergleich mit den prächtigen Jakobusdarstellungen in spanischen Kirchen. Ein Ausgestoßener, der im protestantischen Mitteldeutschland ein gerade noch geduldetes Exil gefunden hat. Fremd in einem kalten Land, in das es ihn auf welchen Wegen auch immer verschlagen hat. Trotzdem ein seltenes Kleinod, das zusammen mit dem Pilgergrabstein die bewegte Vergangenheit der Tangermünder Kirche bezeugt: Ein Jakobus mit halb geschlossenen Augen und nach innen gekehrtem Blick, mit dem charakteristischen Hut mit breiter, vorn hochgeschlagener Krempe, auf der vorne die Muschel prangt. Mit langem Mantel und mit in Flechten auf seine Brust herabhängendem Bart, steht in einer Nische mit Rundbogen, als habe er mit allem Weltlichen abgeschlossen. Jemand hat ihm Tulpen in eine Vase in die sonst schmucklose Nische gestellt. Im Mittelalter war Tangermünde nicht nur Durchzugsgebiet von Pilgern nach Santiago de Compostela. Anfang des 15. Jahrhunderts wurde die Stadt selbst Wallfahrtsort und das Ziel von Pilgern, die ein wundertätiges, silbernes Marienbild in der Marienkapelle bei der Klause verehrten. Die heute nicht mehr auffindbare Kapelle gehörte einst zum Domstift Sankt Stephan, der dort täglich Messen las und Pilgerzeichen verkaufte. Mit der Reformation endete 1509 auch die Wallfahrt zur Marienklause nach Tangermünde.
Inmitten von zahlreichen Besuchern fehlt mir in Tangermünde die besinnliche Beschaulichkeit und Kontemplation, die ich auf dem Brandenburgischen Jakobsweg immer gefunden habe. Wie Havelberg ist auch Tangermünde touristisch geprägt. Es herrscht sonntagnachmittägliches Leben in der Gastronomie rund um den Stadtbrunnen vor der Kirche. Cafés und Läden sind geöffnet, die Gäste sitzen trotz des kühlen Winds entspannt in der Sonne, trinken Kaffee und rauchen. Die Jacken hoch geschlossen, die Zigarette in der Hand, schauen sie dem bunten Treiben um sich herum zu. Durch ein Tor in der Stadtmauer verlasse ich Tangermündes Altstadt, gehe zum Bahnhof, um nach Stendal und zurück nach Berlin zu fahren.
Literatur
Christian Kurrat, Biographische Bedeutung und Rituale des Pilgerns, in: Patrick Reiser und Christian Kurrat (hg.), Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge auf dem Jakobsweg, Münster, 2014:161-192.
Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a. Main, 1989. Mira Menzfeld, Pilgerreisen und Communitas nach V .W . Turner, Studienarbeit, Institut Ethnologie, Universität zu Köln, 2010.
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