Sonntag, 3. April 2016

Wunderblut und Ablasshandel


Am nächsten Morgen bekomme ich unerwartet ein üppiges Frühstück. Was sich gestern kompliziert anhörte, gelingt heute einfach. Gegen sieben Uhr klopft meine Wirtin an die Tür. Sie bringt ein hoch beladenes Tablett herein, das reichhaltigste und schmackhafteste Frühstück seit meinem Aufbruch aus Berlin, ein Frühstück, wie ich es mir besser nicht wünschen kann. An den anderen Tagen hatte ich nur einen Rest Brot, Obst und Käse vom Vortag. Genüsslich esse ich alles auf, selbst das Omelett. Eier habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gegessen, seit ich mir vorgenommen habe, so vegan wie möglich zu leben. Nicht als Dogma, als Annäherung an einen schonenderen Umgang mit Natur und Umwelt, eine alternative Ernährung für den Frieden mit Gaia. Und nun stelle ich mir vor, dass die unten im Garten scharrenden Hühner mir ihre Eier gerne gegeben haben. Ein anderes Resultat der Liminalität, die ich empfinde. Mein Oberschenkel hat sich beruhigt und ich starte gut gestimmt in meinen vorerst letzten Pilgertag. Eigenartig unverkrampft geht mir die Begrifflichkeit inzwischen über die Zunge. Ein letzter Schwatz mit der über 70jährigen Schwester meiner Vermieterin, die aus Berlin zu Besuch ist. Wir reden über Dies und Das und kommen zu dem Schluss, dass Berlin eine spannende Stadt ist, es sich aber in der Natur von Groß Leppin ruhiger leben lässt. Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg, die nächste museale Kirche im Visier, nicht zu verfehlen, da ihr Turm auch hier die Häuser überragt. Um den weiteren Weg kümmere ich mich nicht, denn bisher waren die Kirchen gute Marker. Ich hatte geglaubt, schreibt Carmen Rohrbach, ich müsse nur aufbrechen, mich aus verbrauchten, beengenden Bindungen befreien, dann würde sich schon etwas Neues, Sinnvolles ergeben. Aber ich habe kein Ziel. Das ist es! Ich wandere durch mein Leben, ähnlich wie auf diesem Pilgerweg. Sie besitzen etwas eigentümlich Vertrautes, die Reflexionen anderer Pilger, die fast nahtlos an meine eigenen Gedanken und Gefühlen grenzen. Ein Leitmotiv, dass ich gerne auf meinen Weg nach Wilsnack mitnehme. Besonders weil ich inzwischen weiß, dass Pilgern eine nützliche Metapher des menschlichen Lebens ist. Wahrscheinlich liegt in diesem Vergleich auch der Grund für die Kulturen verbindende Idee des Pilgern. Sein eigenes Leben auf einer Fußreise, jenseits des Alltags, zu reflektieren, hat keine konfessionelle, auch nicht unbedingt eine religiöse Komponente.

Samstagmorgen. Kurz nach acht Uhr. Obwohl der Kirchturm nicht zu übersehen ist, liegt die Kirche zwischen den Häusern versteckt im Dorf. Schon gestern Abend hatte ich, trotz meiner Erschöpfung Lust, mir die Kirche anzusehen, bin aber nicht mehr auf losgegangen, als ich die Schuhe erst vor die Tür gestellt hatte. Heute Morgen kann ich mich nicht schnell genug verabschieden, um einen Blick in die kleine Saalkirche aus dem 14. Jahrhundert zu werfen. Was mich anzieht sind die beiden Grabsteine neben dem Eingang der Kirche, von denen ich gelesen habe. Sie gehören der Familie von Saldern, über die auch Fontane geschrieben hat. Aber wieder ist eine Kirche verschlossen. Ich erhalte den Schlüssel und viel Historisches von einer freundlichen Frau der Kirchengemeinde. Anders als die freistehenden Feldsteinkirchen die anderswo die Atmosphäre der Dörfer bestimmen, wird die Kirche in Groß Leppin von allen Seiten von einstöckigen Wohnhäusern beengt, über die sie dennoch hinausragt. Die Häuser des Dorfes sind bis auf wenige Meter an die Kirchenmauern herangerückt, sodass ich den Kopf weit in den Nacken legen muss, um die Turmspitze zu sehen. Während die anderen Kirchen schon von weitem sichtbar sind, steht diese Kirche wie auf einem Berliner Hinterhof. Wie gut, dass Steine keine Luft zum Atmen brauchen.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Geschichte in einer Landschaft steckt, und wie alt ihre Besiedlung und die Dörfer in ihr sind. Den kulturgeschichtlich und landschaftshistorisch interessierten Städter mag es überraschen, dass die deutsche Provinz nicht immer abgeschieden und bedeutunglos dahindämmerte wie inzwischen nicht nur viele bandenburgische Regionen. Den Bewohnern der Dörfer und kleinen Städte ist oft nicht mehr bewusst, in welchem Überlieferungshorizont sie leben. Ich weiß nicht, ob heutzutage noch Heimatkunde in den Grundschulklassen unterrichtet wird, aber ich habe damals viel über den Ort und die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin, erfahren. Das kleine Runddorf Groß Leppin liegt in der südlichen Prignitz an der Karthane, am Rand eines Hügellands. Die Wiesen und Weiden der großen Luchzone in Richtung Plattenburg reichen bis nach Wittenberg an die Elbe; nur um das historische und kulturelle Einflussgebiet zu markieren. Seine wechselvolle Geschichte kann exemplarisch für andere Dörfer der Region stehen. Die ersten Siedler kamen aus der Altmark in die Region Groß Leppin. Das Dorf wurde erstmals 1248 erwähnt. 1319 kam es zusammen mit der Plattenburg in den Besitz der Havelberger Bischöfe, die 1454 einen gewissen Philipp Pryggenitz mit den anfallenden Einnahmen, dem Grund– und Hufzins der Bauern, belehnten. Groß Leppin war immer ein Bauerndorf, ein Rittergut gab es hier nie. Wann die erste Kirche in Groß Leppin gebaut wurde, ist nicht bekannt. Die systematische Missionierung und Christianisierung der Prignitz begann jedenfalls um 1250. Östlich von Havelberg errichteten Mönche damals die ersten Klöster und Kirchen. Wahrscheinlich irgendwann Anfang des 14. Jahrhunderts wurde eine Saalbaukirche als Wehrkirche erbaut. Sie ist eine charakteristische Prignitzer Wehrkirche, die der Bevölkerung Schutz in unruhigen Zeiten bot. 1576 lebten im Ort fünfzehn Hüfner und vierzehn Kossäten und es gab eine Mühle. Der Dreißigjährige Krieg erreichte Groß Leppin und die Plattenburg 1626. Für das Dorf sowie die ganze Region begannen schlimme Jahre. Die lagernden und durchziehenden Heere mussten mit Nahrung versorgt werden, Soldaten der besiegten Kriegsherren zogen marodierend durch das Land. 1636 und 1638 forderte die Pest viele Opfer unter der Bevölkerung. Eine Zählung der männlichen Bevölkerung der Prignitz im Jahre 1652 ergab für Groß Leppin sechs Überlebende.
Anfang des 18. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung von Groß Leppin wieder. Das Dorf passte sich baulich an diese Veränderungen an. Um 1700 wurde die Kirche umgebaut, 1866 ein Schulhaus für 150 schulpflichtige Kinder errichtet, das ein Großbrand 1886 fast wieder vernichtet hat. Der Friedhof wurde schon zehn Jahre vorher vergrößert, und schon 1804 kam ein Spritzenhaus hinzu. Aus dem Jahr 1855 stammt die Bockwindmühle auf dem Mühlenberg. 1876 wurde schließlich auch die Kirche vergrößert. Sie bekam eine neue Bestuhlung, für die die Gläubigen ein Stuhlgeld bezahlen mussten. Im Ersten Weltkrieg wurde die große und die mittlere Glocke aus Bronze, sowie die Orgelpfeifen aus Zinn, an die Wehrmacht ausgeliefert. Aber schon 1919 erstand die Kirchengemeinde eine neue Orgel von der Firma Grünberg aus Stettin. 1922 wurde Groß Leppin, wie die ganze Region, an das überregionale Stromnetz angeschlossen. Wie Söllenthin geriet auch Groß Leppin nach der Reformation in der Besitz derer von Saldern. Die beiden Grabmäler an der Außenseite der Kirche, in hervorgehobener Position rechts und links neben dem Eingang, gehören Jakob von Saldern und seiner Schwägerin Anna, geborene von Bismarck, die hier zu Beginn des 17. Jahrhunderts bestattet wurden. Als ich vor dem Eingang in die Kirche stehe ist Jacob von Sandern nicht anwesend. Seine Nische ist leer, Schwelle und Sturz durch Balken gesichert, seine Schwägerin verwaist. Bedauernd, Jakob von Saldern nicht angetroffen zu haben, schlage ich die falsche Richtung ein.
Am Ortsrand, auf der Brücke über die Karthane, finde ich keinen Hinweis zur Plattenburg. Ich warte in der Sonne, höre dem Plätschern des Wassers zu und hoffe, jemand kommt des Wegs, den ich fragen kann. Entfernt, beinahe am anderen Ende des Orts versammeln sich Leute auf der Straße. Ich kann mich nicht entscheiden, hinzugehen, um nach dem Weg zu fragen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob dies der Weg zur Plattenburg ist, denn die fehlende Wegmarkierung irritiert mich. Also warte ich in der angenehmen Wärme der Morgensonne, in der Hoffnung, jemand kommt vorbei. Doch niemand kommt. Schließlich werde ich ungeduldig, und mache mich zu den Leuten ans Ende der Dorfstraße. Von ihnen höre ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Schon von weiten sehe ich eine braune Holzstafel, auf dem die Plattenburg mit ihren Attraktionen wirbt. An die Pfosten der Tafel hat der Ort seine Müllsäcke deponiert. Ich biege um die nächste Kurve und: Es gibt ein zweite Brücke über die Karthane. Kurz darauf finde ich auch den gesuchten Wegweiser in die Ortschaft Plattenburg, wohin eine kaum befahrene Landstraße an Pferdekoppeln und Weiden vorbei in den Wald führt. Auf dem schmalen Pfad neben der Straße bin ich schnell im nur drei Kilometer entfernten Plattenburg. Der Wald endet unmittelbar an einigen Häusern, die die Zufahrt zur besterhaltendsten Wasserburg Norddeutschlands säumen, die in Eichen- und Kiefernwälder eingebettet ist. Ein Mann kommt aus einer der Auffahrten und fragt verschmitzt: "Woher kommen Sie?" "Aus Groß Leppin!" antworte ich ihm. Und er sagt:"Das ist aber noch nicht sehr weit." Es ist früher Morgen und ich ahne, wie lange er schon auf den Beinen ist. Die frei in der Landschaft eingebettete Plattenburg gehört zu den wenigen Festungen, unter deren Schutz sich keine Siedlungen oder Städte entwickelten, wie dies sonst bei landesherrlichen Anlagen der Kolonialisationszeit üblich war. Die Straße bringt mich schnurgeradeaus in die Burg, deren Turm zwischen den spärlich belaubten Zweigen wie ein Kirchturm wirkt. Doch die Wuchtigkeit des Turms passt nicht zu den kleineren Türmen einer Feldsteinkirche. Warum auf der Info-Tafel im Tordurchgang zum Knappenhaus darauf hingewiesen wird, dass ein nicht aufmerksamer Wanderer achtlos an der Burg vorübergeht, verstehe ich nicht, denn die Burg ist schon von weitem gut zu sehen.

Die besterhaltendste Wasserburg Norddeutschlands

Die Plattenburg ist vermutlich im Zuge der Rückeroberung der Prignitz durch den Askanier Albrecht den Bären im Jahre 1147 entstanden. Sie diente als Grenzfestung und Schutzburg nach dem ersten Wendenfeldzug. 1319 verkaufte Markgraf Waldemar die Plattenburg an Bischof Reiner von Havelberg und die dortige Stiftskirche. Die Havelberger Bischöfe nutzten die Wasserburg als Sommerresidenz. Mit den Einnahmen aus Ablasshandel, Sünderwaage und dem Verkauf von Wallfahrtsparaphernalien aus der Wilsnacker Pilgerzeit fanden umfangreiche Umbauten und Verschönerungen der Burg statt. Nach der Reformation war die Plattenburg Stammsitz derer von Saldern. 1560 wurde sie, einschließlich Wilsnack, dem kurbrandenburgischen Oberkämmerer Matthias von Saldern vom brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. als erb- und eigentümliches Lehen überlassen. Bis 1945 blieb die Burg im Besitz der Familie. Der letzte von Saldern, der die Burg bewohnte, starb 1963. Im Besitz derer von Saldern erhielt sie ihr heutiges Gepräge. Aber erst 1991, nach der Wende, wurde für die Erhaltung der Plattenburg ein eigener Verein gegründet.
Die mittelalterliche Burganlage besteht aus der Oberburg mit spätgotischem Pallas und dem sogenannten Bischofsflügel der Unterburg, mit Kirche und Staffelgiebel. Bemerkenswert ist die Sandsteinskulptur des Heiligen Laurentius aus dem 14. Jahrhundert. Der Schutzpatron der Havelberger Bischöfe wartet im Tordurchgang des gotischen Knappenhauses, gleich wenn der Besucher die Burg betritt. Der Spanier Laurentius, der im 3. Jahrhundert unter Kaiser Valerian den Märtyrertod starb, war einer der sieben Diakone der Christengemeinde in Rom, zuständig für die Finanzen und die Sozialarbeit der römischen Urkirche. Die Plattenburg hat alle kriegerischen Wirren der letzten Jahrhunderte unbeschadet überstanden. An ihrer idyllischen Lage hat sich bis heute nichts geändert. Sie ist kulturelles Zentrum der Prignitz und ein Museum. In ihren Räumen finden regelmäßig Seminare, Workshops, Ausstellungen und Konzerte, und jährlich im Juni, zum Sommeranfang, das Mittelalterliche Burgspektakel statt. In den Burgkeller lädt die Plattenburger Tafelrunde zu kulinarischen Gepflogenheiten der Prignitzer Raubritter ein. Wer will, kann im Rittersaal, wo sich ein Standesamt eingerichtet hat, heiraten.

Für mich ist es noch zu früh am Tag, um eins der kulturellen oder gastronomischen Angebote der Plattenburg anzunehmen, doch da kaum Besucher den Weg hierher gefunden haben, gehört die sonnige Wiese vor der Burg mir allein. Auf dem Rasen vor dem Knappenhaus richte ich mir ein zweites Frühstück in der Sonne. Der Wind bläst weiter kalt und die Sonne wärmt nicht wirklich. Das helle Sonnenlicht bildet einen wohltuenden Kontrast zu den grauen Wolkenformationen, die mich in den letzten Tagen verfolgt haben und ich trotze dem Wind mit meiner warmen Jacke. Schließlich breche ich auf. Ich bin gut zu Fuß, und das Gehen fällt mir immer leichter. Die wenigen Wohnhäuser im Schatten der Burg bilden das Dorf Plattenburg. Wäre die Burg nicht, ich hätte den Ort ohne Pause hinter mir zurückgelassen. Gegenüber der Plattenburg, auf der anderen Seite der Dorfstraße, steht ein verfallendes Gebäude, ehemals das Restaurant Zur Alten Mühle, unter der immer noch der Mühlbach rauscht. Niemand kehrt mehr ein, denn die Tafelrunde der Raubritter hat den Heimvorteil. Eine alte Frau mit ihren zwei Hunden geht vorbei. Sie lächelt mir von der anderen Straßenseite aus verschwörerisch zu, lässt sich aber von ihren Hunden vorwärtsziehen. Ich gehe hinter ihr her, immer geradeaus, auf den nächsten Wald zu. Oder ist es noch derselbe, von der Plattenburg in zwei Hälften geteilt.
Jenseits der Plattenburg wandere ich über die sogenannte Bischofs-Tour nach Wilsnack, wie ich auf einem Wegweiser lese. Das Piktogramm eines Bischofs mit Mitra und Stab in blau auf einem Schild unter anderen. Es muss der Weg sein, den die Havelberger Bischöfe einst in ihre Sommerresidenz genommen haben, mit mehr Prunk und Aufwand sicherlich, als ich zu bieten habe. Nur noch neun Kilometer und ich erreiche die Stadt. Meine Fußreise geht ihrem Ende entgegen und meine Zeit ist aufgebraucht. Ich freue mich, ein stolzes Gefühl, fast bin ich angekommen. Vor einer Woche war ich skeptisch überhaupt bis hierhin zu kommen. Von Ort zu Ort, von Begegnung zu Begegnung, hat mich die Landschaft weitergereicht, in der ich mich ihrer Kargheit zum Trotz geborgen und aufgehoben gefühlt habe. Die Luchlandschaften von Rhin und Havel beschenken den Wanderer mit einer Einfachheit, die es ermöglicht, die Reizüberflutung und Schnelligkeit des urbanen Berlins für eine Weile abzuschütteln. Die Hypermobilität der Großstadt kommt in dieser Landschaft zur Ruhe.
Die Bischofs-Tour beginnt am Rand des Bestattungswalds Plattenburg. Eine große Tafel lädt den Vorüberkommenden dazu ein, sich in der Nachbarschaft der Plattenburg einen Ort der letzten Ruhe auszusuchen, ihn sich schon zu Lebzeiten zu sichern. Geworben wird mit über die Jahrhunderte nachhaltig gepflegten Bäumen, die dem Bestattungswald Plattenwald seinen einmaligen Charakter verleihen. Die Grabpflege, heißt es weiter, übernimmt die Natur, sodass keine Folgekosten für die Grabpflege entstehen. Auf Grabstein und Grabschmuck kann verzichtet werden. Doch wer will, und dies für die Erinnerung benötigt, kann an einem ausgewählten Baum ein kleines Schild anbringen. Wie sich Totenritual und Bestattung in Zeiten der Marktwirtschaft und des Bevölkerungsdrucks verändern. Ich stehe vor der Informationstafel des Bestattungswalds und die individuell gestalteten, imposanten Grabplatten derer von Sandern kommen mir in den Sinn. Natürlich fehlt auch die Internetadresse auf den Flyern nicht, die dort ausliegen. Der Tod ist heute ein Geschäft wie jedes andere, und da man sich nicht gegen den Tod versichern kann, empfiehlt der Betreiber des Bestattungswalds, sich wenigstens einen Ort für seine Leiche zu sichern. Nachhaltig und exklusiv. Ob die alte Dame mit ihren beiden Hunden, die täglich an diesem Angebot vorübergeht, sich schon Gedanken gemacht und einen Platz reserviert hat? Die Pietät hält mich zurück, die Alte danach zu fragen. Die Sorge, sich schon zu Lebzeiten um einen Bestattungsort zu kümmern, berührt mich auf dem Weg nach Wilsnack eigenartig. Gedanken an den Tod sind nie verfrüht, aber derart vorzusorgen, widerstrebt mir. Gehören Begräbnisstätten inzwischen auch zu den knappen Ressourcen? Ich denke an die vielen Pilger, die im Mittelalter auf diesem Pilgerweg unterwegs waren, ohne zu wissen, ob sie ihr Ziel erreichen oder wieder heimkehren werden. Hatten sie sich einen Bestattungsplatz in der Heimat gesichert oder waren sie zu einer ganz anderen Heimat unterwegs? Ihr Vertrauen in Gott oder in die eigenen Fähigkeiten muss grenzenlos gewesen sein. Das Lieblingskirchenlied meiner Kindheit, dessen Melodie und Versfragmente ich nie vergessen habe, spricht davon, dass wir nur Gast auf Erden sind und ohne Ruh´ auf eine ewige Heimat zuwandern. Wo diese Heimat liegt, ist eine Frage des Glaubens, oder der eigenen Perspektive. Sie kann genausogut in jedem einzelnen selbst liegen. Es ist schon eine seltsame Sache, welche Kindheitsspuren mich mein ganzes Leben begleiten, sodass die Frage, ob sie für mein nomadisches Leben verantwortlich sind zwar nicht beantwortbar, aber doch berechtigt ist.
Die alte Frau mit den beiden Hunden ist immer noch vor mir. Viel weiter entfernt jetzt, ich sehe sie kaum noch. Ich wundere mich zuerst über den weiten Weg den sie geht. Vermutlich ist sie hier täglich unterwegs. Pilgern im Nahraum. Und plötzlich verstehe ihr sanftes, wissendes Lächeln, das so viel Gelassenheit ausstrahlt. Sie sitzt auf einer Bank am Wegrand, ihr Wendepunkt vielleicht. Und diesmal lächeln wir beide. Ich gehe vorbei, Worte finden wir nicht und ich sehe auch nicht mehr zurück, aber ich erinnere mich gern an sie. Drei gelbe Punkte und ein Pfeil, kurz hintereinander auf zwei Bäumen. Der Weg nach Wilsnack ist nicht mehr zu verfehlen. Ich hätte mir eine dieser Wegmarken anderswo auf dem Weg gewünscht. Trotzdem ein gutes Gefühl: Ich bin auf dem richtigen Weg. Ich wandere durch einen sonnengefluteten Wald, umgeben von Vogelgezwitscher und frischem Frühlingsgrün. Das Wetter und ich haben den Frühling eingeholt, der Poncho längst vergessen irgendwo im Rucksack. Es sind diese Waldwege mit den tief wurzelnden Bäumen, zwischen denen ich eine Ruhe und Beharrlichkeit empfinde, die mich emotional tief bewegt. Die Bäume und ihr Wald, ich weiß es nicht, bringen etwas in mir zum Schwingen, von dem ich nicht sagen kann, was es ist und woher es kommt. Immer wenn ich durch einen Wald gehe ist es da. Manche sagen, dass es zur deutschen Mentalität gehört. Bewusst atme ich im Rhythmus der Bäume die saubere, sauerstoffreiche Waldluft ein. Es ist überdeutlich: Der Frühling ist eingetroffen, und in mir klingt Wagners Duett aus der Walküre in dem Sieglinde und Sigmund von den linden Lüften des Frühlings singen, eine Metapher für die beginnende Liebe zwischen den Geschwistern. Überall brechen erste Knospen auf. Der Wald ist in einen hellgrünen, zarten Schleiher gekleidet. Dazwischen die ersten weißen und gelben Blüten, vorsichtig noch. Immer wieder Schmetterlinge und die Allgegenwart des Vogelkonzerts.
Außer mit ist niemand im Wald unterwegs. Ich habe den Wald bis an eine Schleife der Karthane für mich alleine. Dort, schon fast in Wilsnack, treffe ich auf die ersten Spaziergänger. Während ich im Gras der Böschung der Karthane in der Sonne liege, haben sie nur einen misstrauischen Blick für mich. Ob sie neidisch sind, weil sie sich nicht trauen, es mir gleichzutun. Wie leicht ihre sonntäglich gestylte Kleidung im Gras schmutzig werden könnte. Ich kenne diese Gefühle von früher, wollen, aber nicht dürfen. Ein paar hundert Meter später komme ich an einem einsam gelegenen Forsthaus vorbei, so romantisch wie es heute eigentlich keines mehr geben sollte. Es erinnert mich an die sonderbaren, unheimlichen und doch verlockenden Waldhäuser in den Märchen der Gebrüder Grimm, nur nicht an ein Forsthaus des 21. Jahrhunderts, wie ich es mir vorstellt hätte. Der amerikanischen Highways gewachsene PickUp im Hof zerrt mich abrupt in die Wirklichkeit zurück. Nicht Märchen, erst recht nicht verwunschen, und auch keine tanzenden Elfen auf dem großen Platz vor dem Forsthaus. Solche archetypischen Bilder entstehen in den Wäldern, unabhängig von ihrer Größe, und lassen sich angsichts der Waldeinsamkeit leicht imaginieren, ausgelöst von den Gefühlen, die der Wald schon immer bereithielt.
Die letzten Kilometer führt der Weg nur noch kurz durch den Wald. Nach einer Rechtskurve sehe ich über die Felder am Horizont die Stadt. Ein Mann säubert mit einem Wasserschlauch die eiserne Toreinfahrt seines Grundstücks. Ich kann nicht anders und frage ihn, ob die Gebäude dort drüben Wilsnack sind. Eine unnötige Frage, denn ein anderer Ort liegt nicht mehr auf meinem Weg. Aber ich bin zu überrascht, fast enttäuscht, so schnell angekommen zu sein. Es wäre mir lieber, das dort drüben wäre eine andere Stadt. Der Mann bestätigt meine Befürchtung. Ich stehe auf der Grenze zwischen Pilgern und Ankunft. Ich will noch nicht aufhören, zu sehr bestimmt das Gehen inzwischen meinen Tag, mein Empfinden und mein Denken. Die letzten Kilometer habe ich überhaupt nicht daran gedacht anzukommen. Ich war viel zu sehr bei mir, eingetaucht in die Atmosphäre des Waldes, eingestimmt in die mich umgebende Landschaft. Jetzt, Wilsnack sichtbar vor mir, wird mir bewusst, dass ich so kurz vor dem Ziel einen vollkommenen Augenblick erlebe. Alle Mühe und Beschwernisse meiner Fußreise fallen auf den letzten Kilometern von mir ab. Ich spüre weder Müdigkeit noch Schmerzen in den Beinmuskeln, und auch der Rucksack drückt nicht mehr auf Hüften und Schultern. Ich glaube für einen Moment, ich kann ewig weitergehen. Dieses Gefühl von Einssein und Einverstandensein empfinde ich als emotionales Hoch meiner Pilgerfahrt. Eine psychische Befindlichkeit, für die nicht alleine Endorphine verantwortlich sind. Die Enttäuschung, schon jetzt am Ziel zu sein, ist die Weigerung dieses Gefühl so schnell loszulassen. In dem Moment, als ich den Mann anspreche, löst sich diese Stimmung auf, und ich höre entfernt zu, wie er mir am Gartenzaun von Berlin vorschwärmt, wo er geboren ist. Festhalten kann ich dieses Gefühl nicht, denn ich muss weiter, gehe auf die Häuser zu und verschwinde zwischen ihnen in der Stadt. Der Weg ins Zentrum führt über einen befestigten Feldweg, der in eine kleine Wohnstraße mündet, die schließlich auf einer stark befahrenen Hauptstraße in Wilsnack endet. Am Stadtrand zwei luxuriöse Hotels, die mir nach der Einfachheit der letzten Tage wie außerirdisch vorkommen. Das Hotel Ambiente und der Deutsche Hof haben sich neben der Replik eines mittelalterlichen Wegekreuzes aus der Pilgerzeit breit gemacht.

Wegekreuze an Pilgerwegen

Das Wegekreuz in der Nähe des Wilsnacker Bahnhofs wurde am 23. August 2008 anlässlich des 5. Pilgertags aufgestellt. Wegekreuze wie diese Nachbildung wurden im Mittelalter nah und fern zur Orientierung der Pilger und zur Markierung der Wege nach Wilsnack errichtet. Erhalten blieb das aus gotländischem Sandstein gefertigte Wegekreuz des Lübecker Bürgers Johann von der Heide, der dieses Kreuz für zehn Mark am Abzweig der Straße nach Wilsnack und Wismar errichten ließ. Die Kreuze trugen Aufschriften wie to den wilsenack - orate ibi pro nobis. Das Lübecker Wegekreuz ist ein Ring- oder Radkreuz, wie sie im mittelalterlichen Irland verbreitet waren, wo sie als Denkmäler historischer Ereignisse dienten. Ein dem Lübecker verwandtes Wegekreuz stand bis zu seiner Zerstörung im 18. Jahrhundert in Julskov auf der Insel Fünen in Dänemark. Anscheinend wurde es zeitgleich mit dem Lübecker Exponat 1442 in Levide auf Gotland angefertigt. Wegekreuze und Pilgerzeichen belege ndie einstige Bedeutung der Wilsnacker Reliquie, die Herkunft der Pilger sowie die Wege der Pilgerfahrt nach Wilsnack. In Deutschland sind Ringkreuze äußerst selten, da die lutherische Reformation der Heiligen- und Reliquienverehrung in weiten Teilen Deutschlands ein Ende bereitete, und die älteren christlichen Kleinkunstwerke entfernte oder zerstörte.

Am Bahndamm, gegenüber dem Bahnhof von Wilsnack, finde keinen Weg hinüber. Das Bahnhofsgebäude ist ein auf zwei Seiten reich bebildertes Haus, dessen Wände wie ein überdimensionaler Comic illustriert sind. In zahlreichen farbigen Szenen entfaltet sich auf den Mauern die bewegte Geschichte der Stadt. Neben Darstellungen des mittelalterlichen Stadtlebens, des Funds der drei Hostien sowie dem anschließenden Bau der Wunderblutkirche, finden sich auch Szenen moderner Wellness und rehabilitativer Badefreuden im modernen Bad Wilsnack. Da ich keinen anderen Weg hinüber finden kann, und nicht zurückgehen will, gehe ich über die Gleise auf die andere Seite. Ein Zug nach Berlin fährt jede Stunde, bis spät am Abend.
Seit 1929 ist der Wallfahrtsort Wilsnack eine Kurstadt am Südwestrand der Prignitz im Nordwesten Brandenburgs, nur wenig nördlich der Mündung der Havel in die Elbe. Die Stadt liegt an der Karthane, einem kleinen Fluss, der bei Wittenberge in die Elbe mündet und ist Teil des brandenburgischen Biosphärenreservats Flusslandschaft Elbe – Brandenburg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte der Stadtförster Zimmermann die eisenoxidhaltige Moorerde auf den Karthanewiesen. 1907 wurde die erste Moorbadeanstalt eingeweiht, die bereits drei Jahre später wegen wachsender Nachfrage erweitert werden musste. In den folgenden Jahren entwickelte sich das Kur- und Bäderwesen positiv, sodass Wilsnack 1929 der Titel Bad verliehen wurde. 1929 wurde ein Sanatorium gebaut, das 1932 um eine eigene Moorbadeanstalt erweitert wurde. Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese Entwicklung, doch schon 1946 konnte der Kurbetrieb Bad Wilsnack wieder aufgenommen und in den folgenden Jahren erweitert werden. Das eisen- und jodhaltige Thermalsole-Heilwasser fließt aus einer 39° Celsius heißen Quelle aus 1018 m Tiefe und besitzt einen Solegehalt von 16 Prozent. Der Kurbetrieb in Bad Wilsnack wirbt mit dem Slogan Neue Lebensenergie aus eigener Quelle. Ein Motto mit eigenartigem Beigeschmack, bedenkt man, dass die mittelalterlichen Pilger, und die heutigen Badegäste, nur aus einem Grund nach Wilsnack kamen: sich zu reinigen und ihr Leben zu erneuern.
Doch heutzutage sind Wunder nicht mehr en vogue und es kommen mehr Besucher in die Thermalsole als zur Wunderblutkirche. Seit Dezember 2000 können die Badegäste sich in der Bad Wilsnacker Kristall-, Kur- und Gradiertherme entspannen und das einzige Gradierwerk Brandenburgs für ihre Gesundheit und zur Erholung nutzen. Letztlich verdankt (Bad) Wilsnack seinen Ruhm und seine Bedeutung zwei Männern, deren Entdeckungen den Ort bekannt und wohlhabend machten. 1383 führte der Fund der Blutreliquie durch den Pfarrer Johann Cabbuez zu der spirituell-religiösen Bewegung der Pilgerzeit in deren Zentrum die Wunderblutkirche in Wilsnack stand. Nach einer Latenz von mehreren Jahrhunderten in der Folge der Reformation kam die Stadt zu neuem Ansehen, als der Stadtförster Zimmerman 1907 die heilkräftige Erde der Karthaneauen mit ihren medizinischen Wirkungen und physiotherapeutischen Anwendungsmöglichkeiten entdeckte, und die Stadt zur Kurstadt Bad Wilsnack wurde. Vom Bahnhof folge ich den innerstädtischen Wegweisern in die Stadt. Schon bald sehe ich die kleine Spitze der Kirche auf einem äußerst klobbigen Turm, der eher zu einer Burg als zu einer Kirche passt.
Die Kirchen in Fehrbellin und Wusterhausen sind große, beeindruckende Kirchen. Die Marienkirche in Kyritz gefällt sich als ein schlanker, mit ihren Türmen himmelgreifender Bau, neben der die von Wusterhausen, mit ihrem überdimensioniert wirkenden Dach in ihrer gedrungenen Klobbigkeit an eine sich vor dem Sturm duckende Festung erinnert. Die ehemalige Wallfahrtskirche Heiligblut, die heutige Wilsnacker Stadtpfarrkirche St. Nikolai, die 1300 erstmals erwähnt wird, wirkt durch ihre wuchtige Mächtigkeit inmitten der eng an sie reichenden einstöckigen Wohnhäuser. Weiter gesteigert wird dieser Eindruck durch den großen, am Sonntagnachmittag leeren rechteckigen Markt an den die Kirche grenzt. Wie Wusterhausens Basilika macht das Innere der kalten Kirche den Eindruck eines Museums. Fotografierende Menschengruppen wandern durch das Kirchenschiff, betreten den Chor und umrunden den Altar. Überall gibt es etwas zu sehen: das Glasfenster hinter dem Altar, die hölzerne, geschnitzte Kanzel, davor das Taufbecken, ein Kreuzweg, der auf eine Balustrade gemalt ist, Skulpturen in allen Nischen, versehen mit informativen Tafeln.

Der Bann, den die Reformation über die katholische Heiligen- und Reliquienverehrung verhängte, war so wirksam, dass einer der im Mittelalter wichtigsten Wallfahrtsorte, das einst sogenannte Santiago Nordeuropas mit seiner Heilig-Blut-Reliquie völlig in Vergessenheit geriet. Erst in der jüngsten Vergangenheit begann die Forschung mit der Aufarbeitung der kulturellen, das heißt der historischen und theologischen Hinterlassenschaften des brandenburgischen Pilgerwegs mit seinen Kirchen, Kleinkunstwerken und Transitheiligtümern. Trotzdem birgt der Reliquienkult und die Pilgerfahrt nach Wilsnack weiterhin viele Rätsel.
Der monumentale Kirchenbau der Wunderblutkirche St. Nikolai, auf halben Weg zwischen Hamburg und Berlin am Rande der Elbtalaue, ist untrennbar mit der mittelalterlichen Wunderblutlegende verknüpft. In der 169jährigen Wallfahrtsbewegung, von 1383 bis 1552, bildete sie das Ziel von Pilgerströmen aus Nord- und Osteuropa: von den Britischen Inseln, Flandern, über Skandinavien und dem Baltikum, bis nach Polen, Tschechien und Ungarn.
Die heutige Kirche, eine mächtige Hallenkirche aus dem 15. Jahrhundert, ist ein Torso, der nie fertiggestellt wurde. Obwohl sie ein Gotteshaus wie jedes andere ist, und obwohl von der einstigen Blutreliquie nichts bewahrt blieb, umgibt die Wilsnacker Stadtkirche noch immer die mysteriöse Aura vergangener Größe, gerade weil sie nicht vollendet werden konnte.
Das dreischiffige und kreuzförmige Kreuzrippengewölbe im Stil der norddeutschen Backsteingotik enthält zahlreiche bauliche Besonderheiten und Denkmäler, die die Kirche zum Gegenstand intensiver kultur- und baugeschichtlicher Forschung machen. Die Baugeschichte umfasst die Zeit vom Ende des 13. Jahrhunderts bis kurz vor die Reformation.
Der außergewöhnlich gut erhaltene, dreiteilige Hochaltar wurde vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich II. gestiftet, dem Fürsprecher der Wilsnackfahrt im Vatikan. Er besteht aus drei verschiedenen und übereinander angeordneten Retabeln aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts. Der mittlere Teil der Schnitzerei zeigt Maria, umgeben von den zwölf Aposteln. Der obere Teil, ein Dreifigurenschrein, stellt die Mutter Jesu mit den Vierzehn Nothelfern dar. Im Zentrum der fünfteiligen Retabel steht eine Mondsichelmadonna, die links von zwei Frauenbüsten und rechts von einem Mönch sowie einer Bischofsfigur flankiert wird. Noch während ich mich staunend in der Kirche umsehe, kommt eine Frau auf mich zu und fragt: "Sind sie ein Pilger?". Sie hat meinen Rucksack gesehen, den ich an eine der Säulen abgestellt habe. "Den Pilgerstempel", sagt sie mir, "bekommen Sie vorne bei mir im Laden." Ich habe mich schon nach dem Stempel umgeschaut, den ich auf einem Tisch, wie in den anderen Kirchen vermutet habe. Mein letzter Stempel, den letzten auf meiner ersten Etappe nach Tangermünde. Doch ich will noch nicht mit der Frau hinausgehen und verschiebe den Stempel auf später.
Die Wunderblutkapelle mit dem Wunderblutschrein stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts und ist der eigentliche Ursprung des Kirchengebäudes und das bedeutendste Kunstwerk von St. Nikolai, immerhin aus einer Zeit, kurz bevor Kolumbus sich aufmachte, Amerika zu entdecken. Dieser Schrein befindet sich im südlichen Teil des Querschiffs, wo er in die Wandung der Kirchenmauer integriert ist. Der Schrein, in dem heute ein hölzerner Christuskopf pars por toto steht, bewahrte einst Wilsnacks Allerheiligstes: die Monstranz mit dem Heiligen Blut, das zu verehren sich die Pilger auf den Weg machten. Auf der Außenseite der Flügeltür stehen die Worte: Dies ist die Anbetung des Heils . . . wunderbar für meine Augen. Im Giebelfeld halten zwei Engel eine Monstranz empor.
Die hölzernen Türen des Schreins sind beidseitig bemalt. Außen zeigen sie eine Darstellung der Gregorsmesse mit der Vision Papst Gregors I. Während der Messe erschien ihm Christus als Schmerzensmann, umgeben von den Marterwerkzeugen, die als Arma Christi idealisiert werden. In manchen Darstellungen fließt Blut aus der Brustwunde in den Abendmahlskelch, den Gral der Artusromane. Dieses Wunder soll sich der Legende nach in der Kirche Santa Croce in Gerusalemme in Rom ereignet haben, um Zweifel an der Transsubstantiation auszuräumen. Auf der Innenseite der linken Tür ist die Trinität in Form eines Gnadenstuhls dargestellt, Zeichen der Verehrungswürdigkeit des Wunderbluts. Die rechte Tür trägt außen die Verspottung Jesu. Nach der Reformation diente die Kapelle als Familiengruft derer von Saldern zu deren Besitz auch Wilsnack gehörte. 1952 wurden die Gräber in die Chorgrüfte und in andere Bereiche der Kirche verlegt. Dabei vergaß man den Schädel des Burchards von Saldern, der sich zu dieser Zeit in Schwerin befand, wo er wissenschaftlich untersucht wurde. Als er nach Wilsnack zurückkehrte, war die neue Gruft bereits zugemauert, und der Schädel wurde lange in einem Schuhkarton aufbewahrt.

Ein Wallfahrtsort im Mittelalter

Wilsnack war im Spätmittelalter ein Wallfahrtsort unter Hunderten und doch eine Besonderheit. Die Pilger kamen fast ausschließlich aus Gebieten nordöstlich der berühmten Wallfahrtsorte im Südwesten Europas. Mit den Pilgern kam der Wohlstand in die Stadt an der Karthane und nach dem Fund der Heilig-Blut-Reliquie bekam das einstige, unbedeutende Dorf in der Prignitz, durch den Coup eines geschäftstüchtigen Pfarrers, sehr schnell den Status eines bedeutenden Wallfahrtsortes. Ob Johannes Cabbuez nur die Leichtgläubigkeit der Menschen ausnutzte oder ob sich irgendein mysteriöser Hostienfund wirklich zugetragen hat und der ernsthaft an das glaubte, was er gefunden hatte, lässt sich nicht beurteilen. In der Filmsatire Pampa Blues versucht Joachim Król in der Rolle des Gasthausbesitzers Maslow sein Dorf Endlingen nach dem Vorbild der US-Stadt Roswell, wo 1947 ein UFO gesichtet worden sein soll, bekanntzumachen und zu Wohlstand zu verhelfen. Damit die Öffentlichkeit auf das Dorf aufmerksam wird, entwirft er nach dem Vorbild der Roswell-Legende ein UFO in seiner Garage. Dieses Raumschiff lässt er nachts vor den Fenstern ausgewählter Dorfbewohner herunter, die später bezeugen, ein UFO gesehen zu haben. Natürlich gibt es ein Happy End, denn aufgrund bestimmter Umstände gelingt Maslows Plan, der in Endlingen Hochzeiten organisiert und ein mit Hochzeitssuiten ausgestattetes Hotel betreibt von dem alle Dorfbewohner profitieren. Vielleicht hat sich Maslow das Wilsnacker-Modell zunutze gemacht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nach dem Fund der Hostien richtete sich das Wilsnacker Wirtschaftsleben jedenfalls auf den Bedarf der Pilgerscharen aus, die monetäre Begehrlichkeiten bis nach Havelberg auslösten. Vor dem Friedhof entstand ein Marktplatz und die Havelberger Bischöfe ließen 1424 ein Kaufhaus bauen, aus dem 1508 das Wilsnacker Rathaus hervorging. 1513 erhielt die Stadt das förmliche Stadtrecht. Seine Blütezeit erlebte Wilsnack, als man im 15. Jahrhundert im Ort Fürstentreffen und Städtetage veranstaltete.
Große Einnahmen erzielte die Kirche aus der Verkauf der Pilgerzeichen, die dem Pilger als Beweis für seine vollbrachte Pilgerfahrt galten. Das mittelalterliche Wilsnacker Pilgerzeichen bestand aus drei rot gefärbten Kreisen, die zu einem auf der Spitze stehenden Dreieck verbunden waren. Der obere linke Kreis zeigt Christus am Kreuz, ihn oben rechts als Auferstandenen und ihn an der Geißelsäule im unteren Kreis. Es sind diese an den Wallfahrtsorten ausgegebenen und im Umkreis von tausend Kilometern verbreiteten Pilgerzeichen, deren Funde heute den geographischen Umfang der Wilsnack-Wallfahrt dokumentieren.
Gegen Geld, Lebensmittel oder andere Wertgegenstände konnten sich die Pilger auf der Sündenwaage wiegen lassen und sich so ihrer Sünden entledigen. Auf der Waage wurde die Person, nicht seine Sünden gewogen, und indem er den Gegenwert seines Körpergewichts opferte, unterstellte er sich dem Patronat des Heiligen Blutes. Schon früh gerieten die Wallfahrten nach Wilsnack in die Kritik, und den Verantwortlichen in Havelberg und Wilsnack wurde vorgeworfen, sie beuteten die Pilger mit erfundenen Wundern aus. 1512 forderte Martin Luther: Zum zwanzigsten sollten die ungeprüften Kapellen und Feldkirchen bis auf den Grund zerstört werden: Wilsnack, Sternberg, Trier, das Grimmenthal und jetzt Regensburg. Bis zum Tod des letzten katholischen Bischofs von Havelberg, 1548, blieb Wilsnack vor der Reformation verschont.
Gegen den Willen des Havelberger Domkapitels berief der Wilsnacker Rat den lutherischen Geistlichen Joachim Ellefeld an die Wunderblutkirche. Davon unbeeindruckt kamen die Pilger auch weiterhin nach Wilsnack, denen Vertreter des Domkapitels die Reliquie zur Verehrung zeigten. Zwischen den beiden Konfessionen, die gleichzeitig theologische Autorität in Wilsnack beanspruchten, kam es zu großen Spannungen. Um diesen Konflikt zu beenden, bestellte Ellefeld am 28. Mai 1552 den Kaplan Lukas Lindberg, den Sakristan Thomas Bremer und den Schulmeister Johannes Weber in die Kirche. Gewaltsam öffneten sie den verschlossenen Wunderblutschrein und zerschlugen die Monstranz, die das Heilige Blut umschloss. Die Überreste der Bluthostien verbrannten sie, und mit ihnen verbrannte der Glaube an ihre Unzerstörbarkeit. Das Havelberger Domkapitel erreichte die Inhaftierung Ellefelds und Webers in der Plattenburg, während Lindberg und Bremer fliehen konnten. Doch die Gedanken der Reformation hatten sich in Brandenburg bereits durchgesetzt und die Menschen sich gegen den Katholizismus entschieden. Der animistische, mittelalterliche Wunder- und Reliquienglaube brach unter dem Ansturm des rationalistsch-materialistischen Protestantismus zusammen. Trotzdem setzten sich der Prignitzer Adel und einige Geistliche in den Städten für die Angeklagten ein, bis Kurfürst Joachim II. die Angelegenheit entschied. Ellefeld wurde des Landes verwiesen, die übrigen Angeklagten wieder in ihre Ämter eingesetzt.

In einer Vitrine der Wunderblutkapelle wird eine Ablassurkunde zwölf römischer Kardinäle aufbewahrt. Die römische Sammelindulgenz von 1500 ist die letzte, die der Kirche von Wilsnack verliehen wurde. Sie trägt noch die Spuren ihrer einstigen Befestigung an der Kanzel, die mit solchen öffentlich präsentierten Sammelablässen gepflastert gewesen sein muss. Die Abbildungen auf der Urkunde stellen rechts den Heiligen Petrus mit dem Schlüssel, links den Heiligen Paulus mit dem Schwert und in der Mitte das Schweißtuch der Heiligen Veronika mit dem angeblich echten Antlitz Christi dar.
Im Innenraum der Kirche bilden die Fenster im Chor und im nördlichem Seitenschiff aus dem 15. Jahrhundert beeindruckende Zeugnisse spätmittelalterlicher Glasmalerei. Beeindruckend auch der Taufstein mit dem Wappen des Havelberger Bischofs Johann Wöpelitz. Ein Osterleuchter aus Sandstein, links im Chorraum, erinnert an Wallfahrer, die aus Ungarn nach Wilsnack kamen. Das gut erhaltende Fresko des Heiligen Christophorus im südlichen Querschiff, die Nikolausdarstellung am nordwestlichen Langhauspfeiler sowie die alternierende Parade von zwölf Jakobus- und Aposteldarstellungen bilden weitere Schätze mittelalterlicher Sakralkunst. Die Skulpturen des Heiligen Olafs, im 11. Jahrhundert König in Norwegen und des Heiligen Bavo von Gent, der 663 starb, erinnern bis in die Gegenwart an die ehemalige, internationale Bedeutung von Wilsnack. Andere Pilgervotivgaben sind im nördlichen Querhausarm in Tischvirtrinen ausgestellt: ein Walknochen, Ketten für Hände und Füße ehemaliger Bußpilger, zwei weitere Geldbeutel sowie der Pilgerschuh eines siebenjährigen Kindes aus dem frühen 16. Jahrhundert. Neben den vielen Heiligen, die in einer protestantischen Kirche seltsam anmuten, erinnert man auch an den Entdecker der Bluthostien. Die Gedenkstätte aus Sandstein, die um 1410 datiert ist, zeigt Johann Cabbuez und seinen Amtsnachfolger Johannes Bielefeld, die kniend eine Hostienmonstranz hochhalten. Die übersetzte Umschrift lautet: Herr Johannes Bielefeld, Pfarrer in Wilsnack im Jahre 1410. Herr Johannes Cabbues, Entdecker und Pfarrer des Sakraments, der im Jahr 1412 am Tag . . . starb. Hinter ihnen steigen Spruchbänder mit dem Fronleichnams-Hymnus auf.

Meinen letzten Stempel bekomme ich im Andenkenladen im Foyer der Kirche. Es ist ein besonderer Stempel, das moderne Wilsnacker Pilgerzeichen, das sich zwar nicht mehr in Glocken gießen lässt, aber genau so unmittelbar an meine Pilgerfahrt erinnert, wie einst für die mittelalterlichen Pilger, deren Motivation und Ziel eben diese Fußreise nach Wilsnack war. Lediglich ein Souvernir, das nicht dazu taugt, ein Heilsversprechen in die Welt zu senden. Wie nicht anders zu erwarten, besteht der Stempel aus der Darstellung der im Dreieck angeordneten Hostien, den drei gelben Flecken, die auf dem Weg auf Bäume oder Masten gesprüht in den letzten Tagen begleitet haben.
Ich stehe vor der Kirche auf dem Markt in der Sonne, der noch immer leer ist, obwohl der Betrieb in der Kirche anderes erwarten lässt. Vielleicht liegt das an der Gastronomie, und ich mache mich auf die Suche nach einem Café. Nach Cappucino und Kuchen steht mir der Sinn, finde aber im Zentrum der Stadt nichts dergleichen. Es ist Sonntag, und alle Geschäfte am Markt geschlossen. Die Kirche ist der einzige Ort, in die Besucher sich verirren. Wohin sie wieder verschwinden, kann ich mir nicht vorstellen. Zurück in die Kirche und in den Souvernirladen. Die Frau weist mir den Weg zum Bahnhof. Dort gebe es die einzige Möglichkeit, einen Cappucino zu bekommen. Im Bahnhofcafé, wo mir der Cappucino nach einer siebentägigen Abstinenz besser schmeckt als er in Wirklichkeit ist, warte ich auf den Zug nach Berlin. Abfahrt 16:15 Uhr.
Glücklich sitze ich in einem Zug der ODEG zurück nach Berlin. Ich kann nicht aufhören zu lächeln. Ich habe es getan, bin angekommen und nun unterwegs nach Hause. Ich werde nicht vom Heimweh nach Hause getrieben, wie Bruce Chatwin es empfunden hat. Ich verspüre den Drang zu wandern und den Drang zurückzukehren, und ahne, dass er mich nicht mehr loslassen wird. Das täglich gleichförmige Gehen und die meditative Einsamkeit auf dem Weg hat mich entspannt. Keine Termine, keine alltägliche Routine, alle Zeit für mich, und niemand, der etwas von mir will. Nicht mehr ständig als Therapeut zur Verfügung stehen, das mich in den letzten Jahren immer mehr angestrengt, oft überfordert, leer gesaugt hat. Mich interessieren die Biographien meiner PatientInnen nicht mehr, deren Tragik mich tief verändert hat. Die Zeit für die Reflexion meiner eigenen Biographie ist gekommen. Ich kehre anders gefüllt, mit anderen Eindrücken und Empfindungen von Natur, Landschaft und Mit-Mir-Gewesensein in meinen Alltag zurück. Die siebentägige Fußreise, oder war es doch eine Pilgerfahrt, hat mir einen Weg gezeigt, der sich wie eine neue Perspektive öffnet. Was es auch gewesen sein mag, es hat mich mir selbst auf eine einfache, aber effektive Weise näher gebracht, mir neue Energie und ein Gefühl möglicher Selbstfürsorge gegeben, die schon jetzt an eine Fortsetzung denken lässt. Allein gewesen zu sein ist ein gutes, stärkendes Gefühl, etwas, dass ich lange nicht mehr erlebt habe.

17:45 Uhr. Ich bin zurück in Berlin. 121 Kilometer zu Fuß. Die erste mehrtägige Fußreise meines Lebens. Ich bin angekommen, und nicht wenig stolz auf mich, den Weg gefunden und bewältigt zu haben. Berlin kündigt sich schon in Spandau an und empfängt mich am Hauptbahnhof unvermittelt mit Menschenmassen, Gedränge und hektischer Betriebsamkeit. Der Bus nach Hause ist überfüllt mit Touristen auf ihren nachmittäglichen Trip durch die Stadt. In der Enge zwischen den vielen Menschen, die ich nicht kenne, und mit denen mich nichts verbindet, fühle ich mich verwirrt und benommen. Die Freude, die letzten sieben Tage erlebt zu haben, löscht das nicht aus. Gleichzeitig ein Hauch Bedauern, dass sie vorüber sind. Mitten in dem Durcheinanders, das mich umgibt, entstehen die ersten Bilder und Erinnerungen, erfüllt mich eine Zufriedenheit, eine tiefe Ruhe und Gelassenheit, die mich Berlin wieder ertragen lässt.

Berlin - Wilsnack!
Sieben Tage Fußreise.
Eine Stunde Autofahrt.
95 Minuten mit dem Zug.
Geschafft trotz aller Hindernisse.
Ich habe einen Weg gefunden.
Zu Fuß!

Literatur
Carmen Rohrbach, Jakobsweg. Wandern auf dem Himmelspfad, München, 2009.

Copyright 2016. All Rights Reserved.

Die Texte Brandenburgs Jakobsweg sind urheberrechtlich geschützt. Die Seiten und deren Inhalt dürfen nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jegliche unautorisierte gewerbliche Nutzung ist untersagt.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen