Sonntag, 8. Mai 2016

Jakobus in der Nische


Ich bin ausgeruht und satt und mache mich gut gelaunt auf den Weg. Wieder war das letzte Quartier das beste: die Freundlichkeit meiner Gastgeber, das reichhaltige Frühstück, von dem sich die Reste in meinem Rucksack befinden, die Qualität von Matratze und Unterkunft. Heute ist der letzte Tag meiner Fußreise durch die Altmark auf dem Brandenburgischen Jakobsweg; Sand-, Feld und Waldwege und das längste zusammenhängende Reitnetz Europas. Schließlich kommt die Sonne doch noch zurück. Der Weg ist trocken, der Tag warm und sonnig. An den Himmel hat jemand Cirruswolken gesprüht. Ein idealer Wandertag.
Ich verlasse Krusemark über die Dorfstraße zurück auf dem Elberadweg ins zwei Kilometer entfernte Groß-Ellingen. Hinter den letzten Häusern schlängelt sich der gepflasterte Radweg zwischen blühenden Apfelbäumen an einer Landstraße entlang, die vergebens auf ein Auto wartet. Jenseits des Ortsschilds steht eine weitere romanische Feldsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert verlassen zwischen Feldern. Kurz verspüre ich den Impuls einzutreten, um mir die vier Epitaphe der Familie Krusemark anzusehen, aber den Schlüssel zu besorgen, ist mir früh am Sonntagmorgen zu umständlich. Die Kühle eines Kirchenschiffs verspricht nicht wirklich eine Alternative für das Licht der warmen Morgensonne. Auf meiner Fußreise habe ich inzwischen genug bedeutende Bauwerke, Orgeln, Skulpturen, mannigfach künstlerische Ausdrucksweisen und Kirchendesign aus dem Mittelalter gesehen. Ich fühle mich gesättigt und will mir nicht den Appetit verderben. Meine Neugier auf Kirchenkunst muss noch für die St. Stephanskirche in Tangermünde reichen.

Samstag, 7. Mai 2016

Am falschen Grab


Ich will mich nicht daran beteiligen, das Angemessene aus den Augen zu verlieren und verlasse das Haus der Regeln gegen neun Uhr. Ich habe es nicht geschafft, alle Anweisungen der strengen Frau zu befolgen. Aber da meine Gastgeber noch nicht aufgestanden sind, muss ich mich nicht rechtfertigen. Ich habe mich bemüht, war aber letztlich überfordert. Als ich die Haustür hinter mir zuzog, hatte ich den Schlüssel in der Hand, den ich auf den Tisch in der Diele legen sollte. Also warf in ihn in den Briefkasten, in der Hoffnung, die strenge Frau kommt darauf, dort nachzusehen. Ich hoffe auch, nicht mehr wiederkommen zu müssen. Zwanghaft sein ist die Übertreibung von Zuverlässigkeit und Ordnung.
Zurück im Ort kaufe ich Proviant beim Discounter ein: Brot, Käse, Schokolade, für die beiden kommenden Tage. Einen isotonischen Drink auf die Schnelle. Mein Bananenvorrat reicht noch für den Tag. Ich gehe den gleichen Weg aus Werben hinaus, den ich in den Ort gekommen bin. Die kurze Rast auf der Bank am Kriegerdenkmal vor dem Portal der Kirche genieße ich in der warmen Morgensonne, die noch nichts von der gestrigen Hitze spüren lässt. Mit Espresso gefüllte Schokolade ersetzt mir den Cappuccino. Hoch über mir fliegen junge Rotmilane um den Kirchturm, wo sie ihren Horst haben. Mit schrillen Freudenrufen erheben sie sich in die Lüfte. Von der Schwere der Erde gelöst, gleiten sie mit ausgebreiteten Schwingen befreit am wolkenlosen Himmel dahin. Während ich ihrem schwerelosen Flug zuschaue, denke ich an mein Gepäck, und bin ich mir sicher, dass ich sie beneide.

Freitag, 6. Mai 2016

Der Charme der Beliebigkeit


Nach einer traumlosen Nacht fühle ich mich heute morgen unausgeschlafen. Ich empfinde ich es als Zumutung, aufzustehen und weiter zu gehen. Wüsste ich nicht längst, dass ich schließlich doch aufbrechen werde, ich wäre liegen geblieben. Noch bin ich in Havelberg und nicht am Ziel. Die Sonne scheint durch die kleinen Fenster und das morgendliche Vogelkonzert lässt sich nicht länger ignorieren. Es klingt immer dringender nach Aufbruch. In der Wohnküche der Pension erwartet mich ein opulentes Frühstücksbuffet. Drei Männer und ein kleiner Junge leisten mir Gesellschaft. Das Gespräch kreist um die kommenden Urlaube des Jahres und ob Amrum oder al-Andalus die bessere Wahl ist. Ein A führen jedenfalls beide im Namen. Wie es unter Männern oft der Fall ist, sind Besserwisserei und Selbstdarstellung der weitaus wichtigste Teil der Unterhaltung, die der kleine Junge mit gelangweilten Blicken kommentiert.

Donnerstag, 5. Mai 2016

Raubritter und eine Hansestadt an der Elbe


Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Eine Stadt ist nichts anderes. Wer beides durchwandert, bekommt das zu spüren. Früh Morgens bin ich unterwegs zum Südstern, um mit der U7 nach Spandau zu fahren, und weiter mit dem Zug nach Wilsnack. Dorthin, wo ich im Frühjahr die erste Fußreise meines Lebens unterbrochen habe. Als ich Anfang April von Wilsnack zurück nach Berlin fuhr, kreisten meine Gedanken bereits um Tangermünde. Doch jetzt, wo es losgeht, fühle ich mich müde und erschöpft. Lustlos packe ich meinen Rucksack, bin unausgeschlafen und über mein schlechtes Körpergefühl beunruhigt. Ich fühle mich schlecht vorbereitet, nichts scheint mir genug und ausreichend. Auf dem Weg zur U-Bahn zerren die Gurte des Rucksacks an meinen Schultern, der doch leichter sein sollte als auf der letzten Fußreise.
Trotz der frühen Stunde ist das Abteil der ODEG nach Wittenberge gut gefüllt. Himmelfahrt in Berlin. Es ist Feiertag, und genau wie damals, aa Ostern nehme ich den heutigen Tag metaphorisch. Allmählich fällt der Druck von mir, und ich freue mich auf die Fortsetuzung meiner Fußreise, die mir vor Wochen wie eine Wiedergeburt vorkam. Ich habe die beiden Fußreisen nicht bewusst an diesen Feiertagen geplant. Es hat sich in den letzten Wochen meines Erwerbslebens so ergeben. Die Urlaubsplanung im Team war darfür verantwortlich. Im Zug muss ich stehen, denn viele wollen hinaus aus der Stadt aufs Land. Das große Versprechen von Freiheit, die Illusion, man könnte der Stadt noch entrinnen, wenn man sich erst einmal auf ihren Bann eingelassen hat. Nicht nur die Landschaft besitzt Magie. Manchmal scheint mir, die Stadt kann das noch viel besser. Mehrere Fahrräder sind an einer Seite des Zugabteils aneinander gelehnt, die Klappsitze auf der gegenüberliegenden Seite alle besetzt. Ich quetsche mich mit meinem Rucksack auf einen viel zu engen Sitz und ernte entnervte Blicke von dem Paar, das nun zusammenrücken muss.

Sonntag, 1. Mai 2016

Zwischenspiel


Mein eigener Schatten ist auf dem Pilgerweg ein verlässlicher Begleiter geworden. Selbst wenn die Sonne nicht scheint, ist er anwesend, obwohl ich ihn dann nur ahne. Doch bereits der nächste Sonnenstrahl bezeugt seine Anwesenheit. Der Schatten ist das wahre Selbstportrait des Pilgers, den ich nicht aufrollen will wie Peter Schlemihl es tat, der damit seine Seele weggab. War es sein Schatten, der Philip Pullman inspirierte, seinen Figuren einen Dæmon mitzugeben, von dem sie sich nur unter Schmerzen trennen konnten? Ich schaue zu, wie mein Schatten vor mir über den Boden schwebt. Ein anderes Mal ziehe ich ihn wie einen Sack hinter mir her, mit allem, was ich im Lauf meines Lebens hineingepackt habe, um es hinter mir zu lassen.