Ich will mich nicht daran beteiligen, das Angemessene aus den Augen zu verlieren und verlasse das Haus der Regeln gegen neun Uhr. Ich habe es nicht geschafft, alle Anweisungen der strengen Frau zu befolgen. Aber da meine Gastgeber noch nicht aufgestanden sind, muss ich mich nicht rechtfertigen. Ich habe mich bemüht, war aber letztlich überfordert. Als ich die Haustür hinter mir zuzog, hatte ich den Schlüssel in der Hand, den ich auf den Tisch in der Diele legen sollte. Also warf in ihn in den Briefkasten, in der Hoffnung, die strenge Frau kommt darauf, dort nachzusehen. Ich hoffe auch, nicht mehr wiederkommen zu müssen. Zwanghaft sein ist die Übertreibung von Zuverlässigkeit und Ordnung.
Zurück im Ort kaufe ich Proviant beim Discounter ein: Brot, Käse, Schokolade, für die beiden kommenden Tage. Einen isotonischen Drink auf die Schnelle. Mein Bananenvorrat reicht noch für den Tag. Ich gehe den gleichen Weg aus Werben hinaus, den ich in den Ort gekommen bin. Die kurze Rast auf der Bank am Kriegerdenkmal vor dem Portal der Kirche genieße ich in der warmen Morgensonne, die noch nichts von der gestrigen Hitze spüren lässt. Mit Espresso gefüllte Schokolade ersetzt mir den Cappuccino. Hoch über mir fliegen junge Rotmilane um den Kirchturm, wo sie ihren Horst haben. Mit schrillen Freudenrufen erheben sie sich in die Lüfte. Von der Schwere der Erde gelöst, gleiten sie mit ausgebreiteten Schwingen befreit am wolkenlosen Himmel dahin. Während ich ihrem schwerelosen Flug zuschaue, denke ich an mein Gepäck, und bin ich mir sicher, dass ich sie beneide.
Samstag, 7. Mai 2016
Am falschen Grab
Freitag, 6. Mai 2016
Der Charme der Beliebigkeit
Nach einer traumlosen Nacht fühle ich mich heute morgen unausgeschlafen. Ich empfinde ich es als Zumutung, aufzustehen und weiter zu gehen. Wüsste ich nicht längst, dass ich schließlich doch aufbrechen werde, ich wäre liegen geblieben. Noch bin ich in Havelberg und nicht am Ziel. Die Sonne scheint durch die kleinen Fenster und das morgendliche Vogelkonzert lässt sich nicht länger ignorieren. Es klingt immer dringender nach Aufbruch. In der Wohnküche der Pension erwartet mich ein opulentes Frühstücksbuffet. Drei Männer und ein kleiner Junge leisten mir Gesellschaft. Das Gespräch kreist um die kommenden Urlaube des Jahres und ob Amrum oder al-Andalus die bessere Wahl ist. Ein A führen jedenfalls beide im Namen. Wie es unter Männern oft der Fall ist, sind Besserwisserei und Selbstdarstellung der weitaus wichtigste Teil der Unterhaltung, die der kleine Junge mit gelangweilten Blicken kommentiert.
Donnerstag, 5. Mai 2016
Raubritter und eine Hansestadt an der Elbe
Ein Land ist nicht nur seine Landschaft, es ist auch seine Geschichte. Eine Stadt ist nichts anderes. Wer beides durchwandert, bekommt das zu spüren. Früh Morgens bin ich unterwegs zum Südstern, um mit der U7 nach Spandau zu fahren, und weiter mit dem Zug nach Wilsnack. Dorthin, wo ich im Frühjahr die erste Fußreise meines Lebens unterbrochen habe. Als ich Anfang April von Wilsnack zurück nach Berlin fuhr, kreisten meine Gedanken bereits um Tangermünde. Doch jetzt, wo es losgeht, fühle ich mich müde und erschöpft. Lustlos packe ich meinen Rucksack, bin unausgeschlafen und über mein schlechtes Körpergefühl beunruhigt. Ich fühle mich schlecht vorbereitet, nichts scheint mir genug und ausreichend. Auf dem Weg zur U-Bahn zerren die Gurte des Rucksacks an meinen Schultern, der doch leichter sein sollte als auf der letzten Fußreise.
Trotz der frühen Stunde ist das Abteil der ODEG nach Wittenberge gut gefüllt. Himmelfahrt in Berlin. Es ist Feiertag, und genau wie damals, aa Ostern nehme ich den heutigen Tag metaphorisch. Allmählich fällt der Druck von mir, und ich freue mich auf die Fortsetuzung meiner Fußreise, die mir vor Wochen wie eine Wiedergeburt vorkam. Ich habe die beiden Fußreisen nicht bewusst an diesen Feiertagen geplant. Es hat sich in den letzten Wochen meines Erwerbslebens so ergeben. Die Urlaubsplanung im Team war darfür verantwortlich. Im Zug muss ich stehen, denn viele wollen hinaus aus der Stadt aufs Land. Das große Versprechen von Freiheit, die Illusion, man könnte der Stadt noch entrinnen, wenn man sich erst einmal auf ihren Bann eingelassen hat. Nicht nur die Landschaft besitzt Magie. Manchmal scheint mir, die Stadt kann das noch viel besser. Mehrere Fahrräder sind an einer Seite des Zugabteils aneinander gelehnt, die Klappsitze auf der gegenüberliegenden Seite alle besetzt. Ich quetsche mich mit meinem Rucksack auf einen viel zu engen Sitz und ernte entnervte Blicke von dem Paar, das nun zusammenrücken muss.
Sonntag, 1. Mai 2016
Zwischenspiel
Mein eigener Schatten ist auf dem Pilgerweg ein verlässlicher Begleiter geworden. Selbst wenn die Sonne nicht scheint, ist er anwesend, obwohl ich ihn dann nur ahne. Doch bereits der nächste Sonnenstrahl bezeugt seine Anwesenheit. Der Schatten ist das wahre Selbstportrait des Pilgers, den ich nicht aufrollen will wie Peter Schlemihl es tat, der damit seine Seele weggab. War es sein Schatten, der Philip Pullman inspirierte, seinen Figuren einen Dæmon mitzugeben, von dem sie sich nur unter Schmerzen trennen konnten? Ich schaue zu, wie mein Schatten vor mir über den Boden schwebt. Ein anderes Mal ziehe ich ihn wie einen Sack hinter mir her, mit allem, was ich im Lauf meines Lebens hineingepackt habe, um es hinter mir zu lassen.
Sonntag, 3. April 2016
Wunderblut und Ablasshandel
Am nächsten Morgen bekomme ich unerwartet ein üppiges Frühstück. Was sich gestern kompliziert anhörte, gelingt heute einfach. Gegen sieben Uhr klopft meine Wirtin an die Tür. Sie bringt ein hoch beladenes Tablett herein, das reichhaltigste und schmackhafteste Frühstück seit meinem Aufbruch aus Berlin, ein Frühstück, wie ich es mir besser nicht wünschen kann. An den anderen Tagen hatte ich nur einen Rest Brot, Obst und Käse vom Vortag. Genüsslich esse ich alles auf, selbst das Omelett. Eier habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gegessen, seit ich mir vorgenommen habe, so vegan wie möglich zu leben. Nicht als Dogma, als Annäherung an einen schonenderen Umgang mit Natur und Umwelt, eine alternative Ernährung für den Frieden mit Gaia. Und nun stelle ich mir vor, dass die unten im Garten scharrenden Hühner mir ihre Eier gerne gegeben haben. Ein anderes Resultat der Liminalität, die ich empfinde. Mein Oberschenkel hat sich beruhigt und ich starte gut gestimmt in meinen vorerst letzten Pilgertag. Eigenartig unverkrampft geht mir die Begrifflichkeit inzwischen über die Zunge. Ein letzter Schwatz mit der über 70jährigen Schwester meiner Vermieterin, die aus Berlin zu Besuch ist. Wir reden über Dies und Das und kommen zu dem Schluss, dass Berlin eine spannende Stadt ist, es sich aber in der Natur von Groß Leppin ruhiger leben lässt. Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg, die nächste museale Kirche im Visier, nicht zu verfehlen, da ihr Turm auch hier die Häuser überragt. Um den weiteren Weg kümmere ich mich nicht, denn bisher waren die Kirchen gute Marker. Ich hatte geglaubt, schreibt Carmen Rohrbach, ich müsse nur aufbrechen, mich aus verbrauchten, beengenden Bindungen befreien, dann würde sich schon etwas Neues, Sinnvolles ergeben. Aber ich habe kein Ziel. Das ist es! Ich wandere durch mein Leben, ähnlich wie auf diesem Pilgerweg. Sie besitzen etwas eigentümlich Vertrautes, die Reflexionen anderer Pilger, die fast nahtlos an meine eigenen Gedanken und Gefühlen grenzen. Ein Leitmotiv, dass ich gerne auf meinen Weg nach Wilsnack mitnehme. Besonders weil ich inzwischen weiß, dass Pilgern eine nützliche Metapher des menschlichen Lebens ist. Wahrscheinlich liegt in diesem Vergleich auch der Grund für die Kulturen verbindende Idee des Pilgern. Sein eigenes Leben auf einer Fußreise, jenseits des Alltags, zu reflektieren, hat keine konfessionelle, auch nicht unbedingt eine religiöse Komponente.
Samstag, 2. April 2016
Die Kirche der musizierenden Engel
Stadtluft macht schon lange nicht mehr frei, vielmehr macht sie krank, das habe ich bereits erwähnt. Diese Sentenz erinnert den postmodernen Menschen an ein anderes Leitmotiv aus vergangener Zeit: Zurück zur Natur! Fontanes Statement, dass Reisende, die sich in die Mark aufmachen, mit einem feineren Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet sein müssen, ist hilfreich, wenn es darum geht, die Fremde vor der eignen Haustüre zu erkunden: das Besondere auch im Gewohnten zu finden. Das Zeitalter des Ferntourismus mit dem modernen Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wir möglich mit der Fremde bekommt, denn er findet dort nur seine eigene Umgebung, in der er sich wie zuhause fühlen kann. Weit ist er gekommen, doch gefunden hat er nichts, außer dem, was er schon immer kennt. Wer im Nahraum wandert, wer sich dabei von den touristischen Angeboten weitgehend fernhält, der findet eine ganz besondere Fremde vor, mit der er zuerst gar nicht gerechnet hat. Brandenburg ist das Umland von Berlin, könnte man meinen. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe zu haben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und rundherum durch Brandenburg zurück nach Berlin.
Freitag, 1. April 2016
In inneren und äußeren Räumen
Ich frage mich, ob es salutogenetisch wichtig ist, ob Einsamkeit bewusst und absichtlich gewählt oder als Zumutung des Schicksals erlebt wird. Das Schicksal führt nur den Willigen, heißt es, der bereit ist, loszulassen und zu akzeptieren. Liebe und Leid, die schwierigen Schwestern der indoeuropäischen Mythologie. Sie sind immer zu dritt, um auch dem Übergang der Gegenwart ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Nornen und Moiren, das sind die weisen alten Frauen, denen wir uns alle stellen müssen. Vielleicht entspricht es meinem Selbstentwurf, auch allein glücklich zu sein, weil ich dann besser zu mir finde? Vielleicht sind alle Bemühungen um soziale Beziehungen immer auch fremdbestimmt und äußerlich? Gibt es ein richtiges Leben im falschen?, fragt Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia. Ich glaube nicht. Außer jemand redet sich ein, dass Konventionen und Kompromisse das richtige Leben abbilden. Mit diesen Gedanken komme ich heute morgen schwer aus dem warmen Schlafsack. Es wird gerade hell, und im Turm der Barsikower Kirche ist es eisig kalt. Jetzt Ende März hat das Kirchengemäuer noch nicht bemerkt, dass es sich draußen frühlingshaft regt. Doch es dämmert bereits und ich will früh aufbrechen.