Sonntag, 3. April 2016

Wunderblut und Ablasshandel


Am nächsten Morgen bekomme ich unerwartet ein üppiges Frühstück. Was sich gestern kompliziert anhörte, gelingt heute einfach. Gegen sieben Uhr klopft meine Wirtin an die Tür. Sie bringt ein hoch beladenes Tablett herein, das reichhaltigste und schmackhafteste Frühstück seit meinem Aufbruch aus Berlin, ein Frühstück, wie ich es mir besser nicht wünschen kann. An den anderen Tagen hatte ich nur einen Rest Brot, Obst und Käse vom Vortag. Genüsslich esse ich alles auf, selbst das Omelett. Eier habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gegessen, seit ich mir vorgenommen habe, so vegan wie möglich zu leben. Nicht als Dogma, als Annäherung an einen schonenderen Umgang mit Natur und Umwelt, eine alternative Ernährung für den Frieden mit Gaia. Und nun stelle ich mir vor, dass die unten im Garten scharrenden Hühner mir ihre Eier gerne gegeben haben. Ein anderes Resultat der Liminalität, die ich empfinde. Mein Oberschenkel hat sich beruhigt und ich starte gut gestimmt in meinen vorerst letzten Pilgertag. Eigenartig unverkrampft geht mir die Begrifflichkeit inzwischen über die Zunge. Ein letzter Schwatz mit der über 70jährigen Schwester meiner Vermieterin, die aus Berlin zu Besuch ist. Wir reden über Dies und Das und kommen zu dem Schluss, dass Berlin eine spannende Stadt ist, es sich aber in der Natur von Groß Leppin ruhiger leben lässt. Gut gelaunt mache ich mich auf den Weg, die nächste museale Kirche im Visier, nicht zu verfehlen, da ihr Turm auch hier die Häuser überragt. Um den weiteren Weg kümmere ich mich nicht, denn bisher waren die Kirchen gute Marker. Ich hatte geglaubt, schreibt Carmen Rohrbach, ich müsse nur aufbrechen, mich aus verbrauchten, beengenden Bindungen befreien, dann würde sich schon etwas Neues, Sinnvolles ergeben. Aber ich habe kein Ziel. Das ist es! Ich wandere durch mein Leben, ähnlich wie auf diesem Pilgerweg. Sie besitzen etwas eigentümlich Vertrautes, die Reflexionen anderer Pilger, die fast nahtlos an meine eigenen Gedanken und Gefühlen grenzen. Ein Leitmotiv, dass ich gerne auf meinen Weg nach Wilsnack mitnehme. Besonders weil ich inzwischen weiß, dass Pilgern eine nützliche Metapher des menschlichen Lebens ist. Wahrscheinlich liegt in diesem Vergleich auch der Grund für die Kulturen verbindende Idee des Pilgern. Sein eigenes Leben auf einer Fußreise, jenseits des Alltags, zu reflektieren, hat keine konfessionelle, auch nicht unbedingt eine religiöse Komponente.

Samstag, 2. April 2016

Die Kirche der musizierenden Engel


Stadtluft macht schon lange nicht mehr frei, vielmehr macht sie krank, das habe ich bereits erwähnt. Diese Sentenz erinnert den postmodernen Menschen an ein anderes Leitmotiv aus vergangener Zeit: Zurück zur Natur! Fontanes Statement, dass Reisende, die sich in die Mark aufmachen, mit einem feineren Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet sein müssen, ist hilfreich, wenn es darum geht, die Fremde vor der eignen Haustüre zu erkunden: das Besondere auch im Gewohnten zu finden. Das Zeitalter des Ferntourismus mit dem modernen Phänomen des Massentourismus, der Urlauber an jedes Ziel und in jede fremde Kultur weltweit befördert, sorgt gleichzeitig dafür, dass der Tourist so wenig Kontakt wir möglich mit der Fremde bekommt, denn er findet dort nur seine eigene Umgebung, in der er sich wie zuhause fühlen kann. Weit ist er gekommen, doch gefunden hat er nichts, außer dem, was er schon immer kennt. Wer im Nahraum wandert, wer sich dabei von den touristischen Angeboten weitgehend fernhält, der findet eine ganz besondere Fremde vor, mit der er zuerst gar nicht gerechnet hat. Brandenburg ist das Umland von Berlin, könnte man meinen. Aber es ist genau umgekehrt: Berlin ist die Urbanität Brandenburgs, die sich gegen die scheinbare Leere von Sand und Heide wehrt. Die Stadt ist in das Land eingehüllt, ganz von Landschaft umschlossen. Durch seine Urbanität und Internationalität hat sich Berlin bis zur Unkenntlichkeit entbrandenburgt. Dass ist weder gut noch schlecht, sondern die Gelegenheit, Stadt und Land in unmittelbarer Nähe zu haben. Aus Berlin kann ich zu Fuß nach Brandenburg gehen; und rundherum durch Brandenburg zurück nach Berlin.

Freitag, 1. April 2016

In inneren und äußeren Räumen


Ich frage mich, ob es salutogenetisch wichtig ist, ob Einsamkeit bewusst und absichtlich gewählt oder als Zumutung des Schicksals erlebt wird. Das Schicksal führt nur den Willigen, heißt es, der bereit ist, loszulassen und zu akzeptieren. Liebe und Leid, die schwierigen Schwestern der indoeuropäischen Mythologie. Sie sind immer zu dritt, um auch dem Übergang der Gegenwart ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Nornen und Moiren, das sind die weisen alten Frauen, denen wir uns alle stellen müssen. Vielleicht entspricht es meinem Selbstentwurf, auch allein glücklich zu sein, weil ich dann besser zu mir finde? Vielleicht sind alle Bemühungen um soziale Beziehungen immer auch fremdbestimmt und äußerlich? Gibt es ein richtiges Leben im falschen?, fragt Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia. Ich glaube nicht. Außer jemand redet sich ein, dass Konventionen und Kompromisse das richtige Leben abbilden. Mit diesen Gedanken komme ich heute morgen schwer aus dem warmen Schlafsack. Es wird gerade hell, und im Turm der Barsikower Kirche ist es eisig kalt. Jetzt Ende März hat das Kirchengemäuer noch nicht bemerkt, dass es sich draußen frühlingshaft regt. Doch es dämmert bereits und ich will früh aufbrechen.

Donnerstag, 31. März 2016

Pilgerzeichen auf alten Glocken


Am nächsten Morgen wache ich wieder ungewöhnlich früh auf. Das Fenster ist beschlagen. Außen folgen Regentropfen in dünnen Schlieren der Erdanziehung und zeichnen skurrile Wasserbilder auf die Scheiben. Durch ein regennasses Fenster blicke ich auf eine tieforang angestrahlte Wolkenlandschaft, hinter der sich die Sonne für einen Augenblick die Ehre gibt. Hoffnung auf gutes Wetter. Noch während ich zuschaue, wird das Leuchten schwächer, verblasst und verschwindet schließlich in den schweren nassen Wolken, die tief am Himmel hängen wie in einem nassen Sack. Der lichte Hoffnungsstreifen am Horizont verlöscht. Schneller als ich mir wünsche, kommt der Regen zurück.
Ich entscheide mich für einen Poncho und damit für Neuruppin, die Kreisstadt, wo ich hoffe, ein Sportgeschäft zu finden. Damit entscheide ich mich auch für die zweite Busfahrt meiner Fußreise. An der Haltestelle stehe ich mit vielen anderen im Nieselregen auf der Straße und warte auf den Bus. Die Fenster des historischen Postgebäude gegenüber, das ich gestern noch für aufgegeben hielt, sind hell erleuchtet. Eine Stunde später komme ich in Neuruppin an, mit all den Pendlern, auf dem Weg zur Arbeit. So viele Jahre bin ich selbst diesen Weg gegangen, nun froh darüber einen anderen Weg gefunden zu haben. Die lange Fahrt durch ein Industriegebiet geht in eines dieser ewig gleichen Wohnsilos der Stadtränder über, löst sich auf in die in brandenburgisch-preußischer Manier geometrisch realisierte Stadtanlage, das historische Neuruppin. Ich stehe im Regen vor einer großen Pfarrkirche in der Altstadt, von wo die Busse in alle Richtungen abfahren. Der nach Fehrbellin fährt nur dreimal am Tag. Gegenüber das Stadtcafé, mehr ein Kiosk. Meine Hoffnung auf einen heißen, anregenden Cappuccino steigt. Schließlich drückt mir eine hektische Frau einen Pott Filterkaffee in die Hand, den ich nach dem zweiten Schluck ungesehen in einem Blumentopf entsorge. Hundert Meter weiter finde ich ein Sportgeschäft mit einem gesprächigen Verkäufer, der mich ausführlich ausfragt. Er ist der erste, der das Heilige Jahr in Aachen, meiner Heimatstadt, erwähnt, an eine andere, bedeutende mittelalterliche Wallfahrt erinnert. Alle sieben Jahre werden dort Reliquien aus der Frühzeit des Christentums zur Schau gestellt.

Mittwoch, 30. März 2016

Ein Regentag im Luch


Ich schaue aus dem Fenster nach draußen in den beginnenden Tag und sehe nichts als eine bedrückende Grauheit, die sich dicht und schwer vor Nässe über Flatow ausdehnt. Augenblicklich bin ich bedient von dem Gedanken, heute aufzustehen und weiterzugehen. Weiter zu wollen, kommt mir gar nicht in den Sinn. Die Straße glänzt nass unter den Straßenlaternen, die noch nicht ausgeschaltet sind. Die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos reflektieren in großen Wasserlachen, in denen der fallende Regen konzentrische Kreise zeichnet wie Steine, die ausgelassene Kinder in einen Tümpel werfen. Nur die Molche und Frösche lassen auf sich warten, die in meiner Kindheit in den vielen verschwundenen Teichen lebten.
Im strömenden Regen gehe ich hinüber in den Dorfladen, an dem ich gestern Nachmittag vorbeikam. Er gehört zu einem Gehöft, dessen großer Innenhof von Gebäuden wie eine Festung umgeben ist. Durch die Toreinfahrt sehe ich in der hintersten Ecke des Hofs ein beleuchtetes Fenster, hinter dem ich den Laden vermute. Kein Mensch ist zu sehen. Das Angebot an Lebensmitteln ist überraschend einfach und unvollständig: frische Brötchen, Kuchen, Käse, Wurst und einige Konserven; Getränke in Mehrwegflaschen. Die Kühltheke und die Regale sind nicht einmal halb gefüllt. Nach Obst halte ich vergeblich Ausschau, das produzieren und verarbeiten die Dörfer selbst. Dafür gibt es hier keine Nachfrage. Im Berliner Überfluss habe ich vergessen, dass der allzeit bereite Überfluss an Waren nicht selbstverständlich ist.
Ein alter Mann kommt vornübergebeugt und mit schleppendem Schritt aus einem Hinterzimmer an die Ladentheke. Humpelnd, gebrechlich, bedient er mich mit langsamen Bewegungen. Slow Motion! Ich kaufe mir zum Frühstück zwei der Brötchen, und da es außer Wurst kaum Anderes gibt, dass ich essen will, kann ich zwei Schmelzkäseecken einzeln aus der Schachtel bekommen. Ein Stück Kuchen, etwas das wie eine Nussecke aussieht, für später am Tag, lasse ich mir noch in die Tüte packen, in der meine Einkäufe nun durcheinander liegen. Proviant, der bis zum Abend reichen soll. Wie denn die Wettervorhersage lautet, frage ich den Alten. Der brummt etwas Unverständliches vor sich hin, blickt vielsagend durch die Scheibe des Ladens nach draußen, und winkt lächelnd ab.

Montag, 28. März 2016

Endlich auf dem Jakobsweg


Ich bin wieder in Hennigsdorf. Es ist neun Uhr morgens. Ostermontag. Noch ein Feiertag, an dem kein Bus nach Bötzow fährt. Ich habe mir vorgenommen den gleichen Weg wie gestern nicht noch einmal zu gehen, und mit dem Bus nach Bötzow zu fahren. Es verkehrt nur ein Bus bis Marwitz und von dort weiter nach Oranienburg, Orte, die nicht auf meinem Weg liegen. "Fahren Sie doch bis Marwitz mit", schlägt mir ein gutgelaunter Busfahrer vor. "Sie können dann hinüber nach Bötzow laufen." Ich steige ein, in Marwitz aus, und suche nach den Pilgerweg. Aber den Weg nach Bötzow finde ich nicht.
Über Marwitz wölbt sich ein blauer Himmel, von dem warm die Sonne scheint. Heute bin ich zu warm angezogen und gerate schnell ins Schwitzen. Mein Rucksack drückt schwer auf Schultern und Hüften. Noch während ich orientierungslos die Straße, auf der mich der Bus abgesetzt hat, entlanglaufe, ermüden meine Beinmuskeln. Sie empören sich unter der ungewohnten Last, und sind nicht so enthusiastisch wie ich mich fühle. So früh am Morgen ist niemand unterwegs, den ich nach dem Weg fragen kann. Ich suche mir auf der Karte einen Weg aus dem Ort hinaus, der mir vernünftig erscheint, irre mich aber in der Richtung. Nach einigen hundert Metern kehre ich um, gehe zurück zur Bushaltestelle. In der Ferne kommt mir jemand entgegen, den ich fragen will.
Was nun beginnt, ist mein persönliches Marwitz-Dilemma. Ich gehe dem einsamen Spaziergänger entgegen, frage nach dem Weg nach Bötzow und dem Pilgerweg. Er weist in die Richtung, aus der ich gerade komme, murmelt Unverständliches, geht aber, ohne anzuhalten zügig weiter. Ich gehe neben ihm her, versuche ein Gespräch, dass aber nicht zustande kommt. Wir reden aneinander vorbei, ohne Blickkontakt. Ich habe nicht den Eindruck, dass er mich versteht. Auf einem großen Grundstück an der Ortsgrenze, in der Nachbarschaft eines Netto-Marktes, sollen Unterkünfte für 146 Geflüchtete entstehen. Davon erzählt mir erbost der merkwürdige Mann, emotionslos wie ein Nachrichtensprecher, ohne sich persönlich an mich zu wenden. Ich versuche mit seinem schnellen Schritt mitzuhalten. Ohne Gruß, ohne mich noch einmal anzusehen, biegt er plötzlich auf den Parkplatz des Discounters ab und verschwindet zwischen den Häusern. Inzwischen bezweifle ich, dass dieser seltsame Kauz ortskundig ist.

Sonntag, 27. März 2016

Ein missglückter Aufbruch


Aufbruch. Ein Anfang. Eine Wiedergeburt. Ich habe den heutigen Tag bewusst für meinen Aufbruch gewählt. Es ist Ostersonntag. Die Christen feiern die Auferstehung des Gottessohns von den Toten, unsere heidnischen Vorfahren einst das Erwachen der Natur. Mir ist bewusst, dass ich aufbrechen muss. Um was zu finden? Ostern ist das Fest der Wiedergeburt, der Auferstehung. Wie ich es auch betrachte: Es ist eine Auferstehung, eine Wiedergeburt.
Und es ist Frühling, trotz des böigen Windes. Das Leben erwacht für ein neues Jahr und ich beginne einen neuen Lebensabschnitt. Der Wind bläst in schnell aufeinanderfolgenden Böen. Und er ist kalt. Ein blauer Himmel mit Sonne hat mich am Morgen verführt, und nun bin ich zu dünn angezogen. Der Tag ist trocken, aber die für den heutigen Ostersonntag versprochene Sonnenwärme fehlt.  Inzwischen ist der Himmel zugezogen und die Luft so kalt, dass ich die Wärme der Sonne nicht mehr spüre, die der Wind schnell verbläst. Dunkle Regenwolken ziehen auf und sperren die Sonne ist aus.